16.10.2012 PDF

Der historische Materialismus – eine antirevolutionäre Revolutionstheorie

Der historische Materialismus ist ein wesentlicher Grundzug marxistisch-leninistischer Vorstellungen. Die Kritik desselben erhellt manche Ekligkeit der realsozialistischen Praxis und ist daher Bestandteil der Antwort auf die Frage, wie der Kommunismus so auf den Hund kommen konnte.

1) Der Marxismus-Leninismus (ML) kritisiert die Ausbeutung der Arbeiterklasse im Kapitalismus. Während diese im Kapitalismus den fremden Reichtum mehrt, sollen im Sozialismus die Interessen der Arbeiter zum Zuge kommen. Auf dieses Interesse setzt der Marxismus-Leninismus, wenn er die Arbeiterklasse als wesentlichen Träger der Revolution vorsieht. In dieser Überlegung ist das Urteil enthalten: Der Mensch macht die Geschichte.

Zugleich enthält der ML eine diesem Urteil völlig entgegengesetzte Überlegung: Die Interessen der Menschen sind bestimmt durch die Produktionsverhältnisse, welche letztendlich wiederum durch die Produktivkräfte bestimmt seien:1 Der Mensch macht nicht Geschichte, sondern wird durch die (ökonomische) Geschichte bestimmt.

Kritik 1: Marx kannte nur eine Produktivkraft und zwar die Produktivkraft der Arbeit. Diese ist bestimmt über Gebrauchswertherstellung pro Zeit, welche mittels von Werkzeugen, Wissen über die Natur, z.B. in Falle von Düngung von Boden gesteigert werden kann. Aber Werkzeuge oder Wissen sind Mittel des Menschen bei der Arbeit, er wendet sie an. Wie sollen dann diese Werkzeuge dem Menschen den geschichtlichen Weg vorgeben?

Kritik 2: Der ML knüpft bei Marx und Engels an zwei richtige Inhalte an, verwandelt diese aber in völlig andere Inhalte. Einmal hat Marx herausgestellt, dass es in der kapitalistischen Gesellschaft ökonomische Gesetzmäßigkeiten gibt, denen sich die Menschen unterordnen müssen und sie haben nicht einmal ein Wissen darum, was sie tun. Damit hat er aber etwas Charakteristisches über diese Gesellschaft ausgesagt, nicht aber über alle Gesellschaften überhaupt.

Zum zweiten hat sowohl er als auch Engels gesagt (letzterer auch explizit), dass die Freiheit des Menschen nicht in der Ignoranz gegenüber den Naturgesetzen besteht, sondern darin, diese zu verstehen und für sich nutzbar zu machen. Nicht im Ignorieren der Gesetze besteht die Freiheit gegenüber der Natur, sondern in der Einsicht in die Notwendigkeit. Letzteren Gedanken transponiert der ML auf die Gesellschaft. Er meint, dass auch hier Gesetzmäßigkeiten bestünden und die Freiheit sei darin zu finden, diese einzusehen und sie in der Unterordnung unter diese für sich nutzbar zu machen.

Der Unsinn: In der Gesellschaft hat der Mensch es mit seinesgleichen zu tun und nicht mit Natur.2

Der ML betont immer wieder, dass es keinen Determinismus gäbe, weil der Mensch die Geschichte macht. Gleichzeitig sagt er, dass der Mensch geschichtlichen Gesetzen untergeordnet ist. Dieser Widerspruch wird allerdings immer wieder in Richtung Determinismus aufgelöst.3

 

2. Im Historischen Materialismus konstruiert sich der ML eine Geschichtsteleologie (= ein Verlauf, der auf ein bestimmtes Ziel hinausläuft; telos=Ziel). Die Produktivkräfte bringen bestimmte Produktionsverhältnisse hervor. Diese wiederum begünstigen oder beschränken wiederum die Entwicklung der Produktivkräfte, so dass die Produktivkräfte dafür sorgen, dass die Menschen Interessen entwickeln, welche zu einer Umwälzung der Gesellschaft führen. So begründet sich für den ML der Treppenlauf der Menschheitsgeschichte von der Sklavenhaltergesellschaft zum Feudalismus, zum Kapitalismus, zum Sozialismus und schließlich zum Kommunismus.

Kritik: Dies ist „wissenschaftlicher“ Optimismus und Opportunismus. Der eigene Erfolg ist quasi unabhängig von den Gedanken und Anstrengungen der Einzelnen geschichtlich verbürgt.4 Der Widerspruch des Optimismus ist immer der, dass er nur dort notwendig ist, wo der eigene Erfolg gerade nicht verbürgt ist. Wer kennt nicht den Ton-Steine-Scherben-Song „Wo die Nacht am tiefsten ist, ist der Tag am nächsten“?

Der Opportunismus besteht darin, dass man damit Werbung macht, dass das eigene Projekt unausweichlich gewinnen wird und man damit auf der Seite der Sieger stehe. Nicht der Kapitalismus mit seinen schädlichen Folgen für viele Menschen ist das beste Argument gegen ihn, sondern seine untergehende Tendenz. Ein Nebeneffekt dieser Anschauung zeigte sich beim Untergang des Realsozialismus und die daraus gezogene Konsequenz vieler MLer, ihre Parteien scharenweise zu verlassen: Ist die Geschichte nicht doch eher mit dem Kapitalismus?

 

3. Eine weitere antirevolutionäre, antiaufklärerische und eklige Konsequenz liegt in dieser Geschichtsauffassung:

Der marxistisch-leninistische Geschichtsphilosoph ist immer auf der Suche nach untergehenden Tendenzen im Kapitalismus. So werden Krisen und Kriege nicht als das bestimmt, was sie sind: nämlich Resultate des funktionierenden Kapitalismus, in denen die Massen nochmal extra schlecht dran sind – sondern sie werden genommen als Ausdruck dessen, dass der Kapitalismus aus dem letzten Loch pfeift. Jeder Schlächterei wird so aber auch etwas Positives abgewonnen, sie sind dann Vorboten des Kommunismus und daher in „letzter Instanz fortschrittlich“.

Im Übrigen ist diese Konsequenz als Versatzstück bei den Antideutschen erhalten geblieben, wenn sie ihre Urteile über die aktuellen Kriege des Westens von der Frage abhängig machen, ob die Herrschaft durch Saddam oder aber durch die USA eine bessere Vorbedingung für eine befreite Gesellschaft sei. Die Ähnlichkeit mit der Befürwortung des Kolonialismus durch viele damalige Sozialdemokraten in Deutschland hat seinen Grund in der gleichen falschen Geschichtsteleologie.

 

4. Die Arbeiterklasse steht deshalb nicht alleine im Zentrum des ML, weil diese gute Gründe hätte, sich den Kapitalismus vom Hals zu schaffen, sondern weil sie der Träger einer historischen Mission sei: „Die Arbeiterklasse hat die Aufgabe, alle Formen von Ausbeutung und Unterdrückung des Menschen durch den Menschen aufzuheben, den Krieg aus dem Leben der Völker zu verbannen und die klassenlose kommunistische Gesellschaft zu errichten. Das ist ihr geschichtlicher Auftrag. Darin besteht ihre welthistorische Mission.“5

Darin ist jetzt ein widersprüchliches Interesse an der Arbeiterklasse formuliert: Einerseits ist die Arbeiterklasse der Träger des historischen Fortschritts quasi von gesellschaftlicher Natur aus. Andererseits, wenn das sowieso so ist, warum hat sie dann einen Auftrag und wer gibt ihnen den?

Brecht kritisierte diesen Gedanken durch seine Figur „Kalle“ in den Flüchtlingsgesprächen so: „Gegen die Mission bin ich immer gewesen, sozusagen instinktiv. Es klingt schmeichelhaft, aber den Schmeichlern mißtrau ich immer, Sie nicht? (...) Sie denken sich einen Idealstaat aus und wir sollen ihn schaffen. Wir sind die Ausführenden, Sie bleiben die Führenden, wie? Wir sollen die Menschheit retten, aber wer ist das?“6

 

5. Die geschichtsoptimistischen Überlegungen waren Anfang des 20. Jahrhunderts bei allen sich marxistisch nennenden Strömungen verbreitet, von der Sozialdemokratie bis zu den Kommunisten. Damit wurden allerdings auch die verschiedenen politischen Wege begründet bzw. gerechtfertigt. So haben gerade die Rechten in der SPD, die später die erste Weimarer Regierung gestellt haben und die linken Sozialisten und Kommunisten haben zusammenschießen lassen, aus dieser Geschichtsphilosophie folgenden Schluss gezogen: Wenn der Sozialismus eh automatisch kommt, aber die Verhältnisse noch nicht 'reif' sind, dann können wir doch bis dahin Reformen innerhalb des Kapitalismus machen. Rosa Luxemburg hat z.B. dagegen folgende relativ sympathische, aber eben doch falsche Überlegung angestellt: Der Kapitalismus geht notwendig an seinen eigenen Widersprüchen zu Grunde, was aber nicht dagegen spricht, mit ihm früher aktiv Schluss zu machen. Andere haben sich auf die Gewerkschaftsbewegung konzentriert und meinten, es bräuchte gar keine politische Organisierung getrennt von diesen Arbeiterorganisationen. Wenn die Arbeiter der Träger der Revolution sind, dann muss man sie da anschubsen, wo sie sich schon sichtbar von alleine organisieren. Letztere hat Lenin in „Was tun?“ als Ökonomisten bezeichnet und kritisiert. Für ihn kommt der gewerkschaftlich orientierte Arbeiter nur zur Forderung nach „mehr Lohn“, damit aber nicht zu einer prinzipiellen Gegnerschaft zum System.

Lenin hat für den Erfolg der Revolution nicht alleine auf die Spontanität der Massen gesetzt, sondern hielt eine Kaderorganisation von Berufsrevolutionären für absolut notwendig. Er wollte nicht die Revolutionäre an das Bewusstsein der Massen anpassen, sondern die Massen auf das Niveau von Revolutionären emporheben. Weiter sagte er, dass die Klassenzugehörigkeit für die Berufsrevolutionäre gerade keine Rolle spielen soll.7 Weiter meint Lenin, dass die Organisation der Revolutionäre nun „das Proletariat durch harten und zähen Kampf erziehen“ solle.8

Was kommt dabei heraus, wenn der Gedanke zugleich der doppelte ist: Einerseits verbürgt die Arbeiterklasse qua Existenz bereits die Revolution und den Übergang in den Kommunismus. Andererseits ist aber eine Anleitung und Erziehung durch die Kommunistische Partei absolut notwendig für die Mission?

 

6. Die historische Mission hängt so nicht mehr nur am Proletariat, sondern eben an der Partei, welche dieses richtig anleiten soll. Die Parteiarbeit begründet sich damit nicht aus dem Interesse der Parteimitglieder, sondern ebenfalls aus der Mission: „Diese Tatsache zeugt davon, daß es unsere allererste, allerdringlichste Pflicht und Schuldigkeit ist, die Heranbildung von Revolutionären aus der Arbeiterschaft zu fördern (...).“9

Einerseits ist so unterstellt, dass die Masse der Arbeiter nicht die Revolution will. Das nehmen nicht nur die MLer nicht in der Weise ernst, dass sie fragen, welches falsche Bewusstsein die Arbeiter denn hätten und wie müsste man das kritisieren, damit sie vielleicht mal revolutionär würden.

Wenn die Arbeiter nicht das Erwünschte machen, dann sind sie von den falschen Leuten angeleitet worden im Sinne von verführt (bestochen durch hohe Löhne = Arbeiteraristokratie, Sozialdemokraten, faschistische Demagogen).

Oder aber: Die Zeit ist noch nicht reif für die Revolution. Es obliegt den Berufsrevolutionären, die Geschichte und die jeweilige Lage zu studieren, um mit der wissenschaftlichen Einsicht in den Geschichtsverlauf den richtigen Moment für die Revolution abzupassen.

Im durchgesetzten Sowjetstaat dagegen, wenn es nicht so klappt wie gewünscht – und dies Fehlschlagen ist aufgrund der mit geldmäßigen Kennziffern angeleiteten Wirtschaft vorprogrammiert –, sind dann folgerichtig zwei Schlüsse fällig und üblich gewesen:

Erstens gibt es noch rückständiges, kleinbürgerliches usw. Bewusstsein in der Bevölkerung. So wird dann die Bevölkerung durchaus angeklagt, um dies im zweiten Schritt ein wenig zu relativieren: Das falsche Bewusstsein konnte ja nur noch vorhanden sein, weil die Partei beim Anleiten und/oder beim Studium der Geschichtsgesetze versagt hat.

Gegen die westliche Vorstellung, dass in den realsozialistischen Ländern die Kritik verboten war, muss man festhalten, dass Kritik und Selbstkritik ein Dauerzustand waren, inbegriffen Parteisäuberungen als besondere Form. Zu kritisieren ist der für ein vernünftiges Projekt schädliche Inhalt und Zweck der Kritik und Selbstkritik. Es wurde nicht versucht, den Genossen Fehler nachzuweisen und argumentativ zu streiten. Vielmehr geriet eine abweichende Meinung in den Verdacht, nicht einfach falsch, sondern relativ zur moralischen historischen Mission böse im Sinne von verräterisch zu sein.

 

Literaturtipp, in dem ausgeführt wird, inwiefern der Histomat die Grundlage für die Erklärung der Phänomene „Unterbindung von Diskussionen innerhalb der KP“ und „Massensäuberungen mit tödlichen Ausgang“ in der Anfangszeit der Sowjetunion ist:

Peter Decker/Karl Held, DDR kaputt – Deutschland ganz. Resultate-Verlag, 1989. Hier das Unterkapitel: „Stalin der Erfinder des Personenkults – oder: Vom Linienstreit zur blutigen Parteisäuberung“ (S. 268-279).

 

1Während die Produktivkräfte im Marxismus-Leninismus alle Faktoren umfassen, die beim Einwirken des Menschen auf die Natur eine Rolle spielen, sind die Produktionsverhältnisse unterschieden bzw. bestimmt durch die Art und Weise, wie die Menschen sich bei der Produktion und der Verteilung des Produkts aufeinander beziehen. Davon grenzt der ML nochmal die Produktionsweise ab, welche die Einheit von Produktivkräften und Produktionsverhältnisse sein soll.

2Sicher, auch bei Marx und Engels sind Passagen zu finden, die eine Gesetzmäßigkeit hin zum Kommunismus behaupten. Die sind ebenfalls falsch.

3Die Argumente dafür sind wiederum haltlos: So sei die Gesellschaft „unübersichtlich“ und „kompliziert“, so dass „letztendlich“ die „Bewegung“ der Gesellschaft sich durch die Menschen hindurch geltend mache und nicht der Mensch über die Gestaltung der Gesellschaft bestimme. Blöd ist auch das Argument, dass der Mensch ja immer mit gegebenen Sachen umgehen müsse. So als wenn man erst einmal Gott sein müsste, um überhaupt irgendwas planvoll und bewusst anstellen zu können.

4Ein DDR-Philosoph nennt den Histomat auch unumwunden so und findet das gut: „Optimismus auf philosophisch-wissenschaftlicher Grundlage.“ Frank Rupprecht, Realer Optimismus. Kraftquell im Kampf um Frieden und Fortschritt. Berlin 1983, S. 68.

5Zentralrat der FDJ (Hg.), Fragen und Antworten zum Programm der SED. Berlin 1982, S. 22.

6Berthold Brecht, Flüchtlingsgespräche. Frankfurt a. M. 2000, S. 61f.

7„Hinter dieses allgemeine Merkmal der Mitglieder einer solchen Organisation muß jeder Unterschied zwischen Arbeitern und Intellektuellen, von den beruflichen Unterschieden der einen wie der anderen ganz zu schweigen, völlig zurücktreten.“ Lenin, Was tun, in W.I.Lenin, „Über den Parteiaufbau“, Berlin 1959, S. 41.

8Ders., S. 34.

9Ders., S. 59.