31.12.1998 PDF

Vorsicht Kopfnoten!

Das niedersächsische Kultusministerium teilt mit: „Leistungsbereitschaft und Mitarbeit im Unterricht, zielgerichtetes und selbstständiges Arbeiten, Teamarbeit, Hilfsbereitschaft, das Einhalten von Regeln, das Übernehmen von Verantwortung und die Teilnahme am Gemeinschaftsleben sollen künftig Kriterien werden für die Bewertung des Arbeits- und Sozialverhaltens niedersächsischer Schülerinnen und Schüler.“ Die sozialdemokratische Kultusministerin Renate Jürgens-Pieper nennt dies „Kopfnoten in moderner Form“. Die Vergabe von Kopfnoten - die so heißen, weil sie oben am Kopf des Zeugnisses auftauchen - wurde in Niedersachsen vor 27 Jahren von der SPD abgeschafft. Die Begründung lautete damals, es wäre die Aufgabe der Schulen, Leistungen zu bewerten, nicht Charaktere. Durch die Kopfnoten, die damals Fleiß, Pünktlichkeit und Ordnung hießen, seien die Schüler der Willkür der Lehrer ausgeliefert. Außerdem gebe es keine Fächer, in denen solche Tugenden gelehrt würden. Erziehung habe im Elternhaus stattzufinden, die Schulen sähen ihre Aufgabe in der Vermittlung von Wissen.
Aus den Gründen, aus denen Kopfnoten in den 70gern abgeschafft wurden, sollen sie heute in einigen Bundesländern für die Sekundarstufe I wieder eingeführt werden.


Für die Schülerinnen und Schüler in Bayern, Rheinland-Pfalz, Saarland, Baden-Würtemberg, Sachsen und Hessen ist das nichts Neues. Sie bekommen bereits Noten für „Verhalten und Mitarbeit“, „Ordnung, Mitarbeit, Fleiß und Betragen“ bzw. „Arbeits- und Sozialverhalten“. Lediglich die Regierungen von Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein, Hamburg, Bremen und Berlin lehnen die Wiedereinführung von Kopfnoten bislang ab. In Niedersachsen sollen die Kopfnoten zum Schuljahr 2000/2001 eingeführt werden. Beschlossene Sache ist das noch nicht, aber die Idee hat so viele Fürsprecher, daß lediglich die Form der Umsetzung im Kultusministerium diskutiert wird. So ist es bislang strittig, welche Eigenschaften genau beurteilt werden sollen und ob diese dann benotet werden oder ob es statt Noten standarisierte Phrasen wie „verdient besondere Anerkennung“ oder „entspricht nicht den Erwartungen“ geben soll. Auch ob diese Noten im Abschlußzeugnis auftauchen werden und ob es eine Kategorie „Versäumnis von Unterricht“ geben soll ist noch nicht entschieden.
An die neuen Noten werden große Erwartungen geknüpft. Viele Lehrer erhoffen sich ein weiteres wirkungsvolles Mittel zur Disziplinierung der Schüler und Schülerinnen. Die Arbeitgeberverbände nennen Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, Arbeitseinsatz und Teamfähigkeit als zentrale Kompetenzen, über die Zeugnisse bislang wenig Aufschluß geben. Auch Handwerkskammern sprechen sich dafür aus, daß eine Beurteilung der sozialen Fähigkeiten wie Ordnung, Fleiß und Betragen die Auswahl von Azubis für Unternehmen erleichtern würde. Jugendliche, so heißt es, müßten sich nicht nur fachlich, sondern auch „charakterlich eignen“. Der Vorsitzende des Elternbeirats in Niedersachsen, Jürgen Werner, ist von dieser Idee, den Charakter eines Schülers durch das Lehrpersonal bewerten zu lassen, ganz begeistert: “Ich finde es gut, wenn ich jemanden vor mir habe und weiß, wer das ist.“ Na ja, jetzt weiß man wenigstens, wen man in Jürgen Werner vor sich hat.
Einen Verbündeten im Kampf gegen die fickpissige Idee zur Einführung „moderner Kopfnoten“ werden Schülerinnen und Schüler in Niedersachsen wohl nur in der GEW (Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft) finden. Deren Vorsitzender Torsten Post sagte, bei Kopfnoten gehe es um „Zwang zu Wohlverhalten, Erzeugung von Duckmäusertum und Dressur; die Disziplinierung der Schüler mit Verhaltensnoten [ist] ein Rückfall ins pädagogische Mittelalter“.
Schule ist so schon schlimm genug. (Zu einer ausführlichen Schulkritik siehe Fortlaufende Nummer 2.) Es muß verhindert werden, daß sie auch noch ein Urteil über die Persönlichkeit von SchülerInnen fällt.


Dieser Artikel ist erstmals in der junge-linke-Zeitung "Fortlaufenden Nummer" 5, 1999, erschienen