„Der Wohlstand der Sowjetmenschen wird selbst bei gleichem Durchschnittseinkommen der Bevölkerung größer sein als derjenigen Werktätigen in den hochentwickelten kapitalistischen Ländern, weil das Nationaleinkommen in der Sowjetunion im Interesse aller Mitglieder der Gesellschaft gerecht verteilt wird und es keine parasitären Klassen gibt, die sich in den bürgerlichen Staaten durch Plünderung von Millionen Werktätigen riesige Schätze aneignen und sie vergeuden.“ (Programm der KPdSU (1961), in: Boris Meissner, Das Parteiprogramm der KPdSU 1903-1961, Köln 1962, S. 207.)
Die KPdSU will für die Werktätigen was Gutes tun und macht Werbung für ihr System durch einen Vergleich mit dem Kapitalismus. Der geht so: Wird in beiden Systemen insgesamt gleich viel Einkommen erzielt, bleibt bei den Arbeitern im Sozialismus mehr hängen, weil es die Kapitalisten und sonstige Eigentümer nicht gibt.
Damit kritisiert die KP am Kapitalismus erstmal die Verteilung des Reichtums. Zweitens bleibt sie dabei nicht einfach stehen, sondern sagt, dass diese in kapitalistischen Gesellschaften in ungerechter Weise geschieht. Beides sind schlechte Kapitalismuskritiken und es rächt sich für die Werktätigen im Sozialismus, wenn die KP ihre Konsequenzen aus diesen Kritiken zieht.
Gerechtigkeit als Kritiktitel
Etwas ungerecht finden, ist eine überall vorkommende Unzufriedenheit. Schüler finden ihre Noten ungerecht; die Entscheidungen der Eltern finden viele Kinder oft ungerecht; wenn an der Supermarktkasse die eine Reihe schneller vorankommt als die eigene, finden das manche ungerecht; den Richter findet manch Angeklagter ungerecht und manch Lohnarbeiter findet seinen Lohn ungerecht. Dritte-Welt-Aktivisten finden die Verteilung des Reichtums zwischen Nord und Süd ungerecht und die Marxisten-Leninisten finden gleich die ganze Verteilung des Reichtums im Kapitalismus ungerecht.
Wenn die Teilnehmer an einem Essen alle soviel bekommen, dass sie satt werden, dann kommt niemand auf die Idee zu beklagen, dass es ungerecht war, dass der eine mehr als der andere bekommen hat. Gerechtigkeit wird nur dann eingefordert, wenn alle Interessen nicht einfach befriedigt werden können, sondern eine Art von Mangelverwaltung oder aber Interessensbeschneidung ansteht.
Ein Arbeiter sagt: Ich schufte genauso viel wie mein Kollege, vielleicht sogar mehr, aber der kriegt 100 Euro mehr: das ist nicht gerecht.
Seine Kritik ist nicht die, dass er für seine Bedürfnisbefriedigung zu wenig Geld hat. Dann würde er sagen, dass er z.B. den Strom nicht zahlen kann und deshalb mehr Geld braucht.
Er pocht vielmehr auf eine Gleichbehandlung und über die Verletzung dieses Gleichheitsgrundsatzes ist er unzufrieden. Sein Ausgangsinteresse mag „mehr Lohn haben wollen“ sein. Indem er aber bei der Gerechtigkeit anfängt, hat er sich vom materiellen Interesse entfernt bzw. emanzipiert. Denn jetzt ist es schon offen gelassen, ob er nicht auch dadurch zufrieden zu stellen wäre, wenn sein Kollege 100 Euro weniger hätte. Unser Arbeiter hätte materiell nichts davon, seine Unzufriedenheit aber eingelöst.
Er akzeptiert, dass er über seine Lebensverhältnisse nicht entscheidet, sondern der Kapitalist. Er weiß, dass unter diesem Regime das eigene Interesse alleine nichts zählt. Der Kapitalist (bzw. der Manager) behauptet gerne, dass die Löhne nach Leistung bezahlt würden, was objektiv nicht stimmt. Denn schließlich kommt es den Unternehmen darauf an, möglichst viel Leistung aus den Arbeitern bei möglichst geringer Bezahlung rauszubekommen. Unser Arbeiter nimmt jetzt dieses Ideal der Lohnbildung und fordert im Namen dieses Ideal eine Korrektur ein. Objektiv wuchert der Arbeiter mit seinem Dienst an dem Unternehmen (ich schufte) und damit zu wuchern, dass man ein guter Diener ist, führt in aller Regel dazu, dass man weiter ein guter Diener bleibt und nicht dazu, dass die eigene Lage materiell verbessert wird. Er fordert nur von seinem „Herrn“, dass dieser bei seinen Entscheidungen so handeln solle, dass er alle gleich behandeln soll, dann könne er es als Arbeiter ja einsehen.
Gerechtigkeit ist das Ideal der Gleichheit. Letztere bedeutet nur, dass alle einem Prinzip unterworfen sind, auf das man selbst keinen Einfluss hat. Dass Gleichheit daher ein Herrschaftsakt ist, dem die Erfüllung der Interessen der Unterworfenen gleichgültig ist, ist das Wahre dadran. Wer im Namen der Gerechtigkeit für Korrekturen eintritt, der verwechselt Gleichheit mit einem Weg, wie doch eigentlich die eigenen Interessen zum Zuge kommen können.1
Zurück zu den Marxisten-Leninisten (MLer). Diese scheinen gar nicht so unterwürfig zu sein, schließlich meinen sie, dass eine gerechte Verteilung des Reichtums innerhalb des Kapitalismus gar nicht zu machen ist, sondern eine Revolution stattfinden müsse. Dennoch ist der ganze Ausgangspunkt bei ihnen gar nicht anders als bei Sozialdemokraten oder Gewerkschaftern, wenn sie die ungerechte Verteilung des Geldes im Kapitalismus beklagen.
Zunächst ist zu erkennen, dass sie ein besseres materielles Leben für die Lohnabhängigen haben wollen. Dabei bleibt es aber überhaupt nicht in der Weise, dass sie fragen, was dem besseren Leben im Wege steht und was man stattdessen tun sollte.
In der Klage über die ungerechte Verteilung fordern die MLer eine bessere materielle Ausstattung für die Arbeiter, weil sie es sich verdient hätten. Also steht den Arbeitern bei den MLern deswegen mehr zu, weil sie einen Dienst an einem höheren Prinzip geleistet haben, dem alle Menschen gleichermaßen unterliegen sollten. Umgekehrt heißt dies: Nur in dem Grade, wie sich jemand verdient gemacht hat, soll es ihm auch besser gehen.
Das Ideal, dass die MLer ernst nehmen, ist das der kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft: Erstens: Leistung würde im Kapitalismus belohnt werden, jeder ist seines Glückes Schmied durch eigene Kraftanstrengung. Zweitens: Je mehr sich der einzelne anstrengt, desto mehr haben alle davon und so wiederum der einzelne.
Objektiv stimmt das nicht: Im Kapitalismus ist es ja gerade so, dass die Verfügung über nennenswertes Eigentum dafür sorgt, dass andere sich krumm machen und man die Resultate deren Arbeit sich aneignen kann. Eigentum ist das Mittel dafür, sein eigenes Eigentum durch fremde Arbeit zu erweitern. Nichteigentümer, also Lohnabhängige, schaffen im Kapitalismus den Reichtum und werden gerade von den Resultaten der Arbeit so weit ausgeschlossen, dass sie ihr Leben lang für andere arbeiten müssen.2 Weiter ist es ein Irrsinn, ausgerechnet einer auf Konkurrenz basierenden Gesellschaft die Idee unterzuschieben, es ginge in ihr um eine Arbeitsteilung, bei der sich die Mitglieder gegenseitig nach vorne brächten. Zur Konkurrenz gehören Verlierer nunmal notwendig dazu.
Das Ideal der kapitalistischen Gesellschaft kritisieren die MLer nicht und versuchen auch nicht die Arbeiter davon zu überzeugen, dass sie besser nicht daran glauben sollten. Im Gegenteil nehmen sie es furchtbar ernst und kommen zu dem folgenden Schluss:
Kapitalisten und Grundeigentümer arbeiten ja gar nicht, also haben sie gar nichts verdient. Vielmehr müsse deren Reichtum in die Hände der Arbeitenden gelangen. Das wäre gerecht.
Eine andere Verteilung als schlechte Konsequenz
Weil die MLer gar nicht vernünftig den Kapitalismus analysieren und darüber herausfinden, worin die schäbige Lage der Arbeiter ihren Grund hat, sondern sich an das Ideal dieser Gesellschaft halten, kommen sie auf eine andere Verteilung als Mittel der Wahl. An den gültigen Produktionsprinzipien, wie Tausch, Geld, Lohn und Profit haben sie so richtig gar keine Kritik. Vielmehr sagen sie, dass die Kapitalisten und Grundeigentümer das Problem sind. Denen steht erstens sowieso nichts zu und zweitens vergeuden sie ihr Geld, anstatt es für die sich eingebildete Gemeinschaft nützlich zu verwenden.3
Die Analyse lautet: Wenn Kapitalisten den Lohn und den Gewinn benutzen, dann heimsen sie alles ein und den Arbeitern bleibt wenig. Die Lösung lautet entsprechend: Wenn wir als kommunistische Partei an die Macht kommen, dann brechen wir die Macht der Großeigentümer und setzen den Gewinn und den Lohn zugunsten der Arbeiter ein. Das hört sich nach Staatskapitalismus an, im Resultat ist aber weder Kapitalismus noch eine vernünftige Planung herausgekommen, was ein anderes Thema ist.
Hier soll aber nochmal auf den Grundfehler in der Kapitalismuskritik der MLer eingegangen werden: Die Arbeiter haben im Kapitalismus nicht deshalb einen dauerhaften armen und prekären Stand, weil die Kapitalisten den produzierten Reichtum als Schampus in ihre Pools schütten würden. Klar fällt das Leben für diese üppiger und materiell gesehen sorgenfreier aus, aber der ungeheure Reichtum, den die Arbeiter erhalten und schaffen müssen, schlägt sich am wenigsten in Form von Privatausgaben von Managern und Aktienbesitzern nieder. Wenn Bill Gates als reichster Mann der Erde ein paar Milliarden Dollar besitzt, dann darf man sich das nicht so vorstellen, dass er die als Geldscheine irgendwo liegen hat, man sie ihm also wegnehmen könnte und dann verteilen kann. Der größte Teil seines Privatreichtums liegt vor als Besitzanteile an Microsoft und anderen Unternehmen. Einzelne mögen ihre Anteile mal verkaufen und durchbringen, für alle „Reichen“ insgesamt gilt aber, dass sie das gar nicht könnten und dürften, denn dann hätten sie bald keinen Reichtum mehr. Das kann man übrigens derzeit gut an der Finanzkrise sehen: Wo alle versuchen ihre Aktien zu verkaufen, fallen die Aktien und der zuvor üppig vorhandene Reichtum löst sich in Nichts auf. Der Profit als systembestimmendes Kriterium verlangt, dass er wieder investiert wird. Nur so fällt nebenbei für die „Reichen“ ein materiell gutes Leben ab. Der Zweck der Produktion, die Unterordnung aller Gebrauchswertproduktion und damit Bedürfnisbefriedigung unter das Geldverdienen, ist der Grund für die relative Armut der Arbeiter und für den anhängigen Arbeitsstress – nicht die Verteilung.
16.10.2012
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Ungerecht verteilt – über die schlechte Kapitalismuskritik der Realsozialisten
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