12.09.2005 PDF

Schwarz-rot-gold - Hart(z) und stolz

[Was Du auch wählst, es kommt immer Deutschland dabei raus: Bundestagswahl 2005]


"Wichtig ist, was hinten rauskommt"
(Helmut Kohl)
"Wir werden nicht alles anders, aber vieles besser machen"
(Gerhard Schröder)
"Alles bleibt wie immer - nur schlimmer"
(Bernd, das Brot)


Deutschland im Sommer 2005: Eine unzufriedene Weltmacht lädt zur Urabstimmung ein
Normalerweise läuft die Sache so: Alle vier Jahre tapern die BürgerInnen der BRD zur Wahlurne und geben ihre Stimme ab. Sie entscheiden nicht dabei über diese oder jene Sachfrage des Zusammenlebens, die anders nicht zu beantworten wäre, noch weniger über das politische und wirtschaftliche System oder gar was für Sachen produziert werden sollen, um die Bedürfnisse zu befriedigen. Mit ihrem Kreuzchen hinter einer Partei ermächtigen sie diese, über sie zu herrschen. Wem die Mehrheit zutraut, am besten die Geschäfte des Staates zu führen, darf das dann machen - und tut das dann auch, in der Regel ohne noch x-mal nachzufragen, ob das Wahlkreuz des verehrten Wahlvolks denn tatsächlich Praxisgebühren, Studienkonten oder Mehrwertsteuererhöhungen hatte bedeuten sollen.

Die Wahlen geben der Herrschaft das Recht, dies alles durchzusetzen ("die demonstrieren, wir regieren": Helmut Kohl, 1983) - und den Wählern das Recht auf eine schlechte Meinung über die Regierung ("die da oben machen ja doch, was sie wollen": Volksmund, 1871-2005).

Im Sommer 2005 ist das nicht völlig, aber doch ein bisschen anders. Seit Kanzler Schröder das Volk nach dem Vergeigen der Landtagswahl in NRW zur Abstimmung über seine Reformpolitik gerufen hat, ist glatt der Eindruck entstanden, nunmehr habe das Volk über den Fortgang der rot-grünen Reformpolitik zu entscheiden. Dieser recht wohlwollenden Interpretation wollen wir uns nicht nur deswegen nicht anschließen, weil gegebenenfalls nicht alle, sondern höchstens die Mehrheit des Volkes - zu der wir keinesfalls gehören - das Wort hätte. Davon dass das Volk nunmehr das Wort hätte - was daran nun wieder gut sein soll, wissen wir nicht; relevant ist der Inhalt der Entscheidung, nicht wer sie trifft! - kann schon deswegen nicht die Rede sein, weil alle wesentlichen politischen Formationen genau die gleiche Reformpolitik betreiben wollen, über die nun angeblich die Entscheidung ansteht. (Warum das bei der Linkspartei, da wo sie gerade nicht regiert, anders aussieht, dazu später mehr). Wie das kommt, was der ganze Zirkus soll, was Rot-Grün in den letzten sieben Jahren erreicht hat, was Regierung, Opposition und Volk zur Zeit wechselseitig aneinander stört, wo Deutschland steht und wo es hin will - das alles wollen wir im Weiteren beantworten. Darum ist leider kein Platz für die unglaublich spannenden Diskussionen, die die deutsche Öffentlichkeit so in den letzten Monaten bewegt haben - ob die Auflösung des Bundestags verfassungskonform war, was der Kanzler "eigentlich" damit beabsichtigte, wer das Rennen wohl machen wird, ob Merkel es besser kann und ob das nun das Ende der 68er ist. Auch Rezepte, wie es mit Deutschland "bergauf", "voran" usw. gehen kann, wird man hier vergebens suchen - zum Trost bieten wir aber eine Erklärung dafür an, warum diese Maßnahmen notwendig immer auf den gleichen brutalen, menschenfeindlichen Scheiß hinauslaufen. Wen´s interessiert, der/die weiß dann, warum es ihm/ihr und dem Rest der Menschheit so dreckig geht - was der erste Schritt ist, diese Ursachen aus der Welt zu schaffen. Und das ist doch auch was.


Die freie Wahl - zwischen vorgegebenen Alternativen
Demokratie bedeutet die Herrschaft des Volks. Für vier Jahre wird festgelegt, wer über Krieg und Frieden, die Höhe der Rentenbeiträge und die Senkung der Renten, die neusten Gemeinheiten gegen Sozialhilfe-Empfänger und Arbeitslose und die Härte der Schikanen gegen AsylbewerberInnen und MigrantInnen bestimmen darf. Merkel oder Schröder als Kanzler, Fischer oder Gerhardt oder Müntefering als Außenminister - spannend. Das ist das Schöne an einer parlamentarischen Demokratie: Das Volk darf bestimmen, wer über es bestimmt. Kein von der "Vorsehung berufener Führer", kein "von Gott eingesetzter König" oder Oberpriester, kein, "das objektive Interesse der Arbeiterklasse" durchsetzendes Zentralkomitee bestimmen über einen, sondern lauter dienstwillige Geister, die wissen, dass Demokratie "Herrschaft auf Zeit" ist, und in dem "Recht zwischen verschiedenen Eliten zu wählen" (Uraltbundeskanzler Schmidt) besteht. Ob man zum Volk dazu gehören will, fragt einen allerdings keiner. Mitgefangen, mitgehangen. Austreten gilt nicht, wer´s doch macht, sollte besser einen Ersatzkollektivausweis in der Tasche haben - sonst landet er/sie noch in einem Asylbewerberheim. Und die sind nicht nur in Australien sehr, sehr unschön.

Es geht bei Demokratie also um die Selbstbestimmung eines Zwangskollektivs. Nun hat Selbstbestimmung immer mindestens einen Haken: Wer nur über sich selbst bestimmt, und sonst über nichts, der muss, wenn er/sie leben, arbeiten, wohnen usw. will, sich mit den Leuten ins Benehmen setzen, die eben nicht nur über sich selbst bestimmen, sondern auch über Wohnungen, Nahrungsmittel, Arbeitsplätze usw. Und sich also ganz selbstbestimmt unterwerfen: Miete und Preise zahlen - dafür Geld ranschaffen, und darum arbeiten gehen. Wer nur über sich selbst und über sonst nichts bestimmt, muss sich also den gesetzten Sachzwängen unterwerfen. Diejenigen, die über die Lebensbedingungen der anderen verfügen, sind aber auch nicht frei in ihren Entscheidungen. Denn auch sie müssen zusehen, dass sie genügend Geld und Arbeit(skräfte) bekommen, damit sie nicht morgen pleite sind. Was bei Einzelnen stimmt, stimmt auch beim Zwangskollektiv Volk. Wenn das nur zu bestimmen hat, wer es führt, aber weder wohin, noch unter welchen Bedingungen; wenn, so wie hierzulande, klar ist, dass das Leben, Sparen, Wohnen und Arbeiten der Leute davon abhängt, dass andere Gewinn mit ihrer Arbeit machen und dass die Aufgabe des Staates ist, das zu organisieren - dann ist inhaltlich ein klarer Rahmen vorgegeben, in dem sich diese "Selbstbestimmung" bewegt. Und so sehen das ja auch alle in diesem schönen Land, auch wenn sie es so wohl nicht sagen würden. (Dass der Staat diese Sachzwänge, an die er sich "leider" halten muss, selber setzt, sagt hingegen niemand. Die sollen ja gerade alternativlos sein, darum wäre eine Betonung ihres gesellschaftlichen Wesens geradezu zweckwidrig).

Kein Wunder, dass es mit der Auswahl nicht sehr toll aussieht: Zwar gibt es lange und breite Debatten darüber, wer als Person geeignet wäre, Deutschland zu regieren. Aber dass die Programme sich unglaublich ähneln, dass es "keine grüne, sondern nur deutsche Außenpolitik" (Fischer), "nicht linke oder rechte, sondern nur moderne und unmoderne Wirtschaftspolitik" (Schröder) gibt, die "beste Sozialpolitik eine gute Wirtschaftspolitik" (Stoiber) ist und dass alle "nicht alles anders, aber vieles besser" machen (Schröder) und darum nun "aus einem Guss", "durchregieren" (Merkel) wollen, wird im Ernst niemand bestreiten. Wenn man sich im Ziel einig ist, streitet man sich eben nur noch über die Strategie. Anders formuliert: die "Decke", unter der "die da oben" alle stecken, ist Schwarz-Rot-Gold und heißt Deutschland; sie ist kein Geheimnis sondern offen ausposauntes Programm dieses Staats, seiner Parteien und seiner Medien. Keine Verschwörung, sondern das ganz sachgemäße Programm einer Weltwirtschaftsmacht. Über dessen Details darf gestritten werden, wird auch gestritten - wie es genau umgesetzt wird, wer das macht und was der Staat sonst noch so tut in Sachen Moral und Ausländerhetze: Das dürfen die Bürger mit ihrem Wahlkreuzchen bestimmen. Und das machen sie dann auch und zerbrechen sich den Kopf des Staates, anstatt sich zu fragen, ob ihnen diese Verhältnisse auch gut tun. Glorreiche neue (1) Welt, die solche Bürger trägt!

Steht nicht zur Wahl: Das Verhältnis von Politik und Ökonomie
Über das Ziel der Politik besteht von ganz links bis ganz rechts ziemliche Einigkeit: Die "Wirtschaft" muss sich aufrappeln, denn von ihrem Wohlergehen hängt alles ab in diesem Land. Und mit dem Erfolg der deutschen Wirtschaft, so hört man, ist es zur Zeit nicht gut bestellt - oder zumindest nicht so gut, wie dies angeblich nötig wäre. Ein guter Grund, sich einmal näher anzukucken, was das heißt, dass es mit "der Wirtschaft" nicht klappt.

Das Herstellen der Sachen, die Menschen zum Leben und Genießen brauchen, - das ist ja "Wirtschaft" - scheint eine vertrackte Sache zu sein. Fehlen die Rohstoffe dafür? Hat man hierzulande keinen Maschinen, um die gebrauchten Dinge herzustellen? Gibt es zuwenig Arbeitskräfte, die die Sachen herstellen könnten? Oder fehlt das Wissen, um Rohstoffe, Maschinen und Arbeitskräfte sinnvoll einzusetzen? All das scheint nicht das Problem zu sein. Selbst in einem angeblich so rohstoffarmen Land wie Deutschland(2) sind die Läden voll mit brauchbaren Gütern - und keineswegs sind alle derartig mit Champagner, Seide und DVD-Brennern überversorgt, dass man sich Sorgen machen müsste, die guten Sachen wären am Bedarf vorbeiproduziert worden. (Sollte das doch das Problem sein - selbst auf die Gefahr hin, damit dem deutschen Standort zu helfen, ein größerer Teil von uns wäre bereit, den lästigen Überfluss zu verprassen, bis uns die Sahnetorte aus den Ohren herauskommt). Wenn Bedürfnisse nicht befriedigt werden, obwohl sie das könnten - woran mag es liegen?

Im Denken ihrer radikalsten Fans funktioniert die Marktwirtschaft (vulgo: Kapitalismus) ungefähr so: Alle dürfen machen, was sie wollen, und konkurrieren munter los: Sie kaufen und verkaufen, mieten und vermieten, arbeiten und investieren - und schaffen dabei in Form von Waren und Dienstleistungen superviel Reichtum und jede Menge Arbeitsplätze. In dem Bestreben, an Geld zu kommen oder aus ihrem Geld mehr Geld zu machen, schaffen die freien Bürger freier Staaten ganz ohne lähmende Planung alles, was zur Versorgung der Menschen nötig wäre; was irgend jemand gebrauchen könnte, wird von findigen Geschäftsleuten als Marktlücke entdeckt und schwupps befriedigt. Hunger, Durst und Kälte wären nie im Leben ein guter Grund etwas herzustellen, nur der heilsame Zwang des Markte treibt die Leute zu Höchstleistungen an - ohne Markt würden die Leute nur in den Hängematten, die es dann gar nicht gäbe, den ganzen Tag faul herumliegen. Das ganz bornierte Interesse am Geldverdienen soll die Bedürfnisbefriedigung organisieren; und zwar viel besser, als wenn die Gesellschaft einfach planen würde, was voraussichtlich so gebraucht wird und dann für die Herstellung sorgen würde.(3) Das Interesse am Geldverdienen führt in diesem kuriosen Weltbild auch dazu, dass die Firmen sich immer bemühen, möglichst billig und möglichst gut zu produzieren - weil sonst die werte Kundschaft noch zur Konkurrenz geht, und man auf dem produzierten Kram sitzen bleibt. Und so treiben sich alle zu Höchstleistungen an und die Welt wird jeden Tag reicher, bunter und schöner. Wieviel FDP-Mitglieder, SZ-Redakteure und VWL-Professoren braucht man um eine Glühbirne zu wechseln?? Keinen! Wenn es das Bedürfnis danach gibt, wird es der Markt schon machen... Herrliche Zeiten, in denen jeder an sich selber denkt und somit (und gerade dadurch) an alle gedacht ist. So muss Freiheit schmecken! Probleme kennt ein richtiger Fan der Marktwirtschaft natürlich auch: Alle nämlich, die diese Freiheit einschränken wollen. Da gibt es glatt Gewerkschaften, die versuchen dem Markt "überhöhte" Löhne abzutrotzen, damit die Arbeitskräfte davon auch leben können. Was soll das bloß? Da gibt es den Staat, der sich dauernd einmischt, anstatt nur das Privateigentum zu schützen und sich ansonsten rauszuhalten. Und die Bevölkerungen, die glatt fordern, der Staat müsse sich um sie kümmern, anstatt dass sie mal in die Hände zu spucken und sich den frischen Wind des freien Marktes um die Nase wehen zu lassen. Nicht zuletzt gibt es da noch ausländische Staaten, die einen einfach als Ausländer behandeln, wo man doch Deutscher ist - sie besitzen doch glatt die Frechheit, ihre Ökonomie nach ihren nationalen Gesichtspunkten zu sortieren, und nicht nach deutschen. All diese Übeltäter sollen Schuld daran sein, dass die Märkte nicht so funktionieren, wie sie eigentlich könnten. Dass es Stockungen gibt und Krisen, dass das Geld seine "Allokationsfunktion" nicht wahrnimmt, Chancen ungenutzt bleiben und es vielen Leuten gar nicht so gut geht. Rezept dagegen: Mehr Markt!
Daneben gibt es natürlich auch die Fans der Marktwirtschaft, die gleichzeitig Feinde von "Heuschrecken" sind. Die beigefarbenen Hüpftiere sind zum Inbegriff des gierigen, egoistischen, vaterlandslosen Kapitalisten geworden - was schon mal das Ideal des sozial verbundenen, opferbereiten und vaterländischen Unternehmers verrät. Dieses wird immer aufgerufen, und den "Nieten in Nadelstreifen" mahnend vorgehalten, wenn es selbst für hart(z)gesottene Freunde der sozialen Marktwirtschaft schwer wird zu erklären, warum ihr System das einzig Senkrechte ist.

Verraten wir ein Geheimnis, wenn wir sagen, dass es im Kapitalismus um´s Geld verdienen geht? Dass das heißt, dass all die schönen Dinge nur das Licht der Welt erblicken, weil ein Unternehmen hofft, mit ihrer Produktion Gewinn zu machen? Wer wüsste nicht, dass Bedürfnisse darum erst einmal nur insoweit zählen, als dass sie zahlungskräftige Bedürfnisse sind? Dass Überfluss an Sachen und Mangel an Reichtum, an diese Sachen zu gelangen, im Kapitalismus der skandalöse Normalfall ist? Dass das periodisch dazu führt, dass Unternehmen ihr Zeug nicht loskriegen, weil die potentiellen Käufer es nicht kaufen können - und dann Betriebe dichtmachen machen müssen? Und fast fürchten wir, keinen Nobelpreis für die Entdeckung zu bekommen, dass die meisten Menschen arbeiten gehen, nicht weil sie so angetan sind von den Dingen, die sie produzieren oder den Diensten, die sie so leisten; auch nicht, weil ihnen eingeleuchtet hat, dass ihre Arbeit wohl halbwegs sinnvoll ist - sondern weil sie keine andere Einkommensquelle haben, als ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Muss in einem Land, in dem die Gewerkschaft behauptet "Du bist mehr ein als ein Kostenfaktor", noch großes Tamtam darum gemacht werden, dass die Arbeitskräfte in den Augen des Kapitals genau das sind - ein lästiger Kostenfaktor, den man leider braucht? Dass entsprechend die Behandlung der Arbeitskräfte und ihrer Lebensgrundlagen auch aussieht, mit all dem Verschleiß, dem permanenten Stress, den gesundheitlichen Risiken, den Lebensmittel- und Umweltskandalen, an die sich die Öffentlichkeit bereits ganz abgeklärt gewöhnt hat? Lohnt die Mühe, all den Verächtern einer Planwirtschaft zu verraten, dass im Kapitalismus auch Planung stattfindet - weil es ungeplante Ökonomie höchstens in Slapstick-Komödien gibt? Weiß denn jemand nicht, dass im Kapitalismus statt eines gemeinsamen Plans, Millionen von Unternehmen und Milliarden von Individuen ihre Pläne hin und wieder miteinander, oftmals nebeneinander und fast immer auch gegeneinander zu verwirklichen suchen - und darum sehr viele dieser Pläne scheitern?

Genau das ist weltweit 2001-2003 passiert und diese überall stattfindende Vernichtung von überschüssigem Kapital hat auch um Deutschland keinen Bogen gemacht. Ganz gemäß ihrer gesellschaftlichen Funktion haben die deutschen Kapitalisten das gemacht, was nun mal ihr Job ist: gekuckt, wie und auch wo sich die Produktion rentabler organisieren und damit die Gewinnspanne erhöhen und die Kosten senken lassen. Dafür haben sie Standorte geschlossen, Sparten an andere, die einen guten Preis geboten haben, verkauft - und haben sich dabei nicht davon beirren lassen, dass das für ihre "freigesetzten" Arbeitskräfte und absatzlos gewordenen Zulieferer nicht so ein prima Sache war. Die deutschen Unternehmen haben dann auch dankbar darauf zurückgegriffen, dass Deutschland im Rahmen der EU ihnen das wunderbare Geschäftsfeld Osteuropa (und manche andere Länder noch dazu) erschlossen hat - am Ende zählt eben nicht, ob die Arbeitskräfte Currywurst, Döner oder Bigos essen, sondern was sich mit der Anwendung der aufgekauften Arbeitskraft verdienen lässt. Das macht erfolgreiche Unternehmen aus und ist lange Jahre von ihnen von Regierung und Öffentlichkeit gefordert worden. Mittlerweile wächst die Kritik, sie würden damit gar nicht dem deutschen Standort dienen.

Jeder weiß, auch wenn er/sie sonst nicht so viel weiß, dass der Erfolg Deutschlands sich international messen muss: Mit dem Erfolg der anderen "Standorte". Und dass darum der Wahlkampf geht: Um die Auswahl der Politiker, die am besten Wirtschaftswachstum in Deutschland organisieren, und zwar gegen ihre französischen, britischen, italienischen, US-amerikanischen usw. Kolleginnen und Kollegen und deren Wirtschaftswachstumspläne. Überfluss und Luxus will da allerdings niemand versprechen, mit be(d)rückener Monotonie verkünden Medien und Parteien, dass "wir alle" den Gürtel enger schnallen müssen, die fetten Jahre (wann waren die noch mal?) vorbei seien. "Erfolgreiche Politik" will also nicht mehr versprechen als "mehr Arbeitsplätze". Wir übersetzen: Die Möglichkeit, sich im Dienste fremden Reichtums den Buckel krumm zu schuften. Und das nimmt kaum jemand als Drohung wahr, sondern höchstens als Versprechen, das die Regierung doch nicht halten wird. Dass dieses Sich-Abschuften in Konkurrenz zu den Lohnsklaven anderer Standorte stattfindet, und die und ihre Unternehmer der eigentliche Grund für allen Unbill sind - davon sind eine erkleckliche Anzahl von Leuten überzeugt.

Wechselseitig bestreiten sich die Völker dieser Welt, vertreten durch "ihre" Politiker und Unternehmen, die Lebensbedingungen. Dass die Menschen sich als Völker zusammenrotten, die sich wechselseitig die Lebensbedingungen, und damit teilweise das Überleben, streitig machen, hat mit Natur oder dem lieben Gott nun nichts zu tun. Es ist das Werk von Politik. Die ließe sich ändern bzw. abschaffen. Das aber steht am 18. September 2005 so wenig zur Wahl, wie an jedem anderen Tag des Jahres auch.

Darf sich jeder auswählen: Viel falsche Kritik am Kapitalismus
"Irgendwie" haben die Leute eine Ahnung, außerhalb der Wirtschaftsredaktionen und VWL-Lehrstühle, dass der Kapitalismus kein prima sich selbst regulierendes System ist, wo eigentlich alles super läuft. Etwas Gescheites, gar eine Kritik wird daraus aber nicht. Weil sie die gesellschaftliche Grundlage ihres Lebens nicht in Frage stellen (wollen), aber dennoch unzufrieden sind, rufen die Leute nach dem Staat, er möge doch bitte einschreiten und ihnen einen Kapitalismus ohne Konkurse, Krisen und Arbeitslosigkeit bescheren. Das gibt`s von "links" und von rechts.

Ein Sozialdemokrat z.B. sieht den Zusammenhang zwischen Konkurrenz und Gemeinwohl genau anders herum, als er ist: Er glaubt, die Konkurrenz sei für das Gemeinwohl da - dass also alle nur deswegen Gegner sind, um gegeneinander viel produktiver zu sein. Mit diesem gemeinsam hergestellten Reichtum könne der Staat dann viele gute Werke und schöne Dinge tun. Denn ein Sozi hat Ideale, er weiß: Der Mensch ist nicht nur ein Konkurrenzgeier, sondern auch ein - Mensch! Als solcher hat er in diesem Weltbild automatisch ein Vaterland, das er lieben muss. (Das "muss" ist sehr ernst zu nehmen). In unserem Fall: Deutschland. Als guter Nationalist, und ein solcher ist ein Sozialdemokrat von Haus aus (auch wenn er lieber Patriot dazu sagt), sollen also alle nicht nur im Vaterland das höchste der Gefühle sehen. Sondern auch in ihrem ganz normalen Werktagsleben alles durch eine schwarz-rot-goldene Brille sehen, ihr Herumkonkurrieren als Beitrag zu Deutschlands Größe und Stärke sehen. Zusätzlich oder deswegen will ein Sozialdemokrat, der Name sagt`s ja schon, auch "sozial" sein.(4) Er will nicht und darf nicht wollen, dass Arme, Alte, Kranke, Kinder, Blumen und Delfine schlecht abschneiden, nur weil ihre Existenz sich eigentlich nicht rechnet. Passiert das dann doch, heißt das "leider" (Profi). Oder man meckert an der Konkurrenz herum, dass die dem Gemeinwohl nicht dient und nicht die Leistung bringt, die er von ihr erwartet. (Amateur). Dass sich SPD-Profis wie Müntefering gegenüber dem Amateur-Standpunkt nachsichtig gezeigt hat, weil er das Drängeln der Unternehmer nach noch mehr Leistungen der Politik für ihren Erfolg ziemlich undankbar und egoistisch fand - das ist schon die ganze Quintessenz der "Kapitalismuskritik"-Debatte im April/Mai 2005. Dass die Linkspartei.PDS bis heute den Profi-Standpunkt nicht verinnerlicht hat und so tut, als ob er ihr völlig fremd wäre - das ist die Quintessenz der öffentlichen Schelte für Gysi, Lafontaine & Co. (Davon "links" gibt es dann noch die Knaller von DKP, MLPD & Co., die das Gemeinwohl so geil finden, dass sie den Kapitalismus durch seine schlechte Kopie, den Staatssozialismus, ersetzen wollen - ein obrigkeitliches Arbeiterbeglückungsprogramm, wo der Staat einen Markt simuliert und die von ihm befohlene, bewachte und genau vorgeschriebene Konkurrenz Wunderwerke der Reichtumsproduktion vollbringt. So wie das eben aussieht, wenn eine falsche Kapitalismuskritik praktisch wird. Aber gehen wir zu Wichtigerem über).

Kapitalismuskritik gibt es natürlich auch von "rechts". Ausgehend von dem Satz, die Wirtschaft habe der Nation zu dienen, entdecken die Fans einer deutschen Volkswirtschaft gerade in den Siegen des deutschen Kapitals lauter Niederlagen des deutschen Staates und Sünden gegen deutschen Reichtum: Internationalisierung, Rationalisierung, europäischer Markt und Euro, billige Arbeitskräfte aus dem Ausland - lauter Teufelszeug in schwarz-rot-goldenen Augen. Der Übergang zum Nazi ist da fließend, und entscheidet sich im "Realismus" und in der Treue zum Verfahren, die Führer durch Wahlen zu bestimmen, anstatt eine im Grundgesetz nicht vorgesehene "Vorsehung" damit zu beauftragen. Darum bleibt der "Kampf gegen Rechts" auch nach fünfzig Jahren siegreicher Demokratie ein Dauerbrenner: Sowohl die Kritik von Faschisten am Zustand des Gemeinwesens, als auch die Ursachen ihres Unbehagens, als auch ihre Hoffnung auf höhere Schicksalsmächte sind tief im "demokratischen Diskurs" verankert. Faschisten sind eben die konsequentesten bürgerlichen Nationalisten - weswegen ihnen die bürgerlichen Demokraten auch kein grundsätzlichen Argumente entgegenschleudern können. Mehr als ihnen abzusprechen, gute Nationalisten zu sein (weil zu extrem), kriegen sie selten hin. Bei diesen Wahlen wird den Nazis ja nicht allzuviel zugetraut, weil vorderhand die nationalistische Kapitalismuskritik von links kommt. Schau`n mer mal, wie das 2009 aussieht.

Der Staat - Problem und Lösung in einem!
Ob nun die Fans des freien Wirtschaftens, die linken oder die rechten Kapitalismus"kritiker" oder die missvergnügten Bürger: Alle setzen sie auf den Staat. Mal solle er sich einschränken, mal soll er die die von ihm geschaffenen gesellschaftlichen Verhältnisse entmachten und sich wieder zum eigentlichen Machtfaktor machen (Primat der Politik gegen den angeblichen Terror der Ökonomie). Worum geht es dabei eigentlich?

Der moderne Staat heute leistet einiges für seine Ökonomie und seine Gesellschaft:
a) Er garantiert das Privateigentum nach innen durch sein Gewaltmonopol. Ohne diese Garantie würde eine Gesellschaft, die auf der Eigentumslosigkeit der Arbeiter beruht - die würden sonst kaum ihre Arbeitskraft verkaufen - nicht existieren; nicht zu reden von anderen Habenichtsen. Die Konkurrenz um den gesellschaftlichen Reichtum ist eine harte Sache, dass sich auch die wirklichen und potentiellen Verlierer an ihre Regeln halten, muss eine staatliche Gewalt erzwingen.
b) Er setzt diese Garantie auch nach außen durch und erschließt die Machtbereiche anderer Staaten für das nationale Kapital und vertritt dabei, dadurch und dafür seine Interessen bei den Verhandlungen über die Konditionen des Welthandels (WTO, IWF etc.). An den Grenzen anderer Staaten endet zwar seine Gewalt, aber eben nicht seine Interessen, weil jede Menge nationaler Geschäftsinteressen für ihre Verwirklichung auf ausländisches Zeug, ausländische Arbeitskräfte und/oder ausländische Käufer angewiesen sind. Damit sich die Existenz anderer Souveräne nicht unangenehm bemerkbar macht und das Bemühen der anderen Nationen, Deutschland zum Geschäftsfeld ihrer Kapitalien zu machen, keine ärgerlichen Konsequenzen hat - dafür findet die ganze glorreiche Europa- und Außenpolitik statt.
c) Der Staat begrenzt die Konkurrenz im Interesse ihres Erhalts: Er muss bestimmte Sachen verbieten und andere gebieten. Um es mit Marx zu sagen, tendiert das Kapital dazu, die beiden Springquellen des Reichtums - den Arbeiter und die Erde - zu untergraben (5). Darum herrscht der Staat den Arbeitern und dem Kapital auf, wie die Verausgabung der Arbeitskraft stattzufinden hat (Arbeitsschutz, Urlaub, Pausen, Krankheitsregelungen usw.). Dass ihm die Arbeiter dies einmal mittels einer sozialistisch gemeinten Bewegung abtrotzen mussten (6), ändert nichts daran, dass dies funktional und notwendig für den Kapitalismus ist (und dies auch die Grenze für die "Wohltaten" des Staates ist). Zugleich verbietet er den Unternehmen, viele Sachen, die zwar billig, aber für Arbeitskräfte, ihre Fortpflanzung und das Überleben der Gesellschaft insgesamt seines Erachtens zu gefährlich wären (Lebensmittelrecht, Umweltrecht, Gesundheitsvorschriften usw.). Das Vergiftungsniveau einer kapitalistischen Gesellschaft bedarf permanenter staatlicher Überwachung.
d) Der Staat kümmert sich zusätzlich um die kostengünstige Pflege oder auch nur Beaufsichtigung aller Voraussetzungen des kapitalistischen Geschäftemachens, die selbst (noch) kein profitables Geschäft sind oder ohne strenge Aussicht nicht gut funktionieren würde (Verkehr, Post, Telekommunikation, Gesundheitswesen, Bildungswesen). Er entzieht bestimmte Bereiche ganz der ökonomischen Konkurrenz und richtet sie als Extra-Sphären neben der Ökonomie ein (Politik, Rechtspflege, Familie) - dass das "neben" ein "für" ist, geht allerdings hierzulande kaum jemandem ein.

Ins Gerede gekommen sind die Funktionen c) und d). Früher feierte sich die Bundesrepublik dafür, dass sie eben nicht bloß auf die "Selbstheilungskräfte des Marktes" setzt, sondern erkannt habe, dass der moderne Staat nicht bloß als "autoritärer Besitzverteidigungstaat" (der frühere SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher) funktionieren kann. Dass nicht alles in den Händen der Marktprofis am Besten aufgehoben ist, das sollte gerade das Markenzeichen der "sozialen Marktwirtschaft" sein - und irgendwo zeigen, dass die ganzen Linken nicht alle Tassen im Schrank hatten, wenn sie immer wieder über Kapitalismus reden. Heute wird das, was Linksradikale, ach sogar ganz unradikale Linke, früher immer gesagt haben - heute haben die ja gar keine Kritik mehr am Sozialstaat, sondern reden wie 1970er-Jahre- Sozialdemokraten - , dass der Sozialstaat für das bestmögliche Profitemachen existiert, von den Fans der Marktwirtschaft offen herausposaunt. Ganz so als wollten sie die behämmerte These Lenins, die Arbeiter wären bestochen worden (7), und würden darum keine Revolution machen, nachträglich noch mal unterschrieben, wird heute behauptet, der bürgerliche Staat habe in den 50er, 60er und 70er Jahren aus Angst vor den Schalmeienklängen der Stalinisten den Arbeitern eine Runde nach der anderen spendiert. Zum Gesellschaftskritiker wird darüber keine/r - denn nach 15 Jahren Standortdebatte haben alle Leute gefressen, dass es eben die Sachzwänge sind, die es erforderlich machen, all das zu schleifen, was früher, neben der höheren Produktivität, die Überlegenheit des freien Westens über den Staatssozialismus gezeigt habe. Der bürgerliche Staat betrachtet heute ganz methodisch, alle seine Aktivitäten als potentielle Versündigung an den Geschäftsmöglichkeiten seiner Bürger. Er bezichtigt sich selber geradezu sozialistischer Umtriebe - und hier muss man ihn vor dieser Selbstkritik mal richtig in Schutz nehmen: Seine gewaltmäßigen Garantien waren absolut kapitalismus-konfom und wenn sich irgendwelche Jusos und Judos (8) dies Anfang der 70er anders zurechtgelegt haben, dann war das Käse. Damals ging es dem Staat unter anderen Bedingungen um das gleiche - und darum waren andere Mittel nötig.

Ganz ernstzunehmen braucht man den scheinbar recht staatsfeindlichen Impetus der Marktfans nicht. Auch wenn die Fans des freien Marktes hin und wieder so reden, den Staat wollen sie nicht abschaffen. Das Gerede vom "schlanken Staat", "weniger Bürokratie", "Liberalisierung" und "Aufbrechen verkrusteter Strukturen" (9) ist insoweit Quark, als dass die Durchsetzung marktförmiger Strukturen nie und nimmer ohne Staat auskommt. Märkte fallen nicht vom Himmel, ohne staatliche Gewalt können sie gar nicht funktionieren. Das gilt sowieso, wo er gerade Märkte simulieren soll, wo vorher gar keine waren (Verkehr, Bildung, Telekommunikation). Der Staat "dereguliert" darum auch nicht, sondern reguliert anders, eben gemäß den Interessen, die er heute hat. Das Nachtreten gegen die Ideologien, die der Staat früher selber über sich in Umlauf gebracht hat, hat da nur die Funktion, den Leuten jegliches Anspruchsdenken abzugewöhnen. Adressat des Wunsches nach mehr Markt ist darum allemal der Staat.

Das ist er auch bei denen, die aus den Leistungen des Staates für die Ökonomie den Schluss gezogen haben, der Gewaltmonopolist habe noch ganz andere, wesentlich edlere Funktionen, als die Konkurrenz zu betreuen. Eben weil sie weder wissen, noch wissen wollen, dass der Staat in seiner Getrenntheit von der Ökonomie dieser am besten dient, träumen sie vom idealen ideellen Gesamtkapitalisten, der darüber schon fast zum Gesamtsozialisten wird - oder eben vom nationalen Machtstaat, der sich mit schäbigen materiellen Interessen gar nicht aufhält, wenn er das deutsche Volk von Sieg zu Sieg führt.
Einen Unterschied gibt es da auf jeden Fall: während Linke im hohen Maße "lernfähig" sind für die wirklichen Kriterien des nationalen Erfolgs und irgendwann ihre Illusionen beiseite schieben - Faschisten sind da etwas prinzipieller. Sympathischer werden sie uns dadurch auch nicht.

"Braucht" Deutschland den Wechsel?
Die gegenwärtige Regierung hat auch jenseits der BILD-Zeitung mehrheitlich eine schlechte Presse. Seit sie das Land regieren, haben sich die Rot-Grünen die Frage gefallen lassen müssen, ob ihre Wahl nicht eine Fehlentscheidung sondergleichen gewesen ist. Hätte es da nicht zwischendurch einen CDU-Spendenskandal, ein Oder-Hochwasser und einen in Norddeutschland nicht vermittelbaren Spitzenkandidaten Stoiber gegeben - kaum hätten SPD/Grüne die zweite Amtszeit geschafft. Aber so groß das Gemecker, so groß auch die Zustimmung zur Politik. In allen Sachfragen kann sich die Regierung auf breite Zustimmung von Bevölkerung und Medien stützen - selbst bei den wenigen Punkten, wo sie tatsächlich einen Unterschied zu CDU/CSU/FDP hat (Homo-Ehe, Atomkraft, Legehennen, Konfrontationsniveau mit den USA) ist laut Meinungsumfragen die Bevölkerung eher Rot-Grün als Schwarz-Gelb eingestellt. Die paar Fragen, wo die Regierung im Verdacht steht, "rot-grüne Ideologie" zu praktizieren (Dosenpfand, Anti-Diskriminierungsgesetz), gehen sachlich kaum auf ihr Konto (10), und würden, gäbe es da nicht ganz andere Unzufriedenheiten, auch nie und nimmer für die Abwahl von Schröder, Fischer & Co. sorgen. Auch das, was die SPD/Grünen-Regierung nun wohl das Amt kosten wird, die Hartz-Reformen, werden allenthalben als "leider notwendig" abgehakt.

Und hat Rot-Grün nicht eine Leistungsbilanz, die jeden Nationalisten nur begeistern kann? Die rot-grüne Regierung hat 1999 in Jugoslawien den ersten richtigen Krieg nach 1945 geführt. Und sie hat diese imperialistische Haupt- und Staatsaktion dazu benutzt, die neue weltpolitische Rolle Deutschlands ausgerechnet mit seiner Geschichte zu begründen. War früher das Treiben der Wehrmacht ein anerkannter Grund dafür, dass Deutschland seinen Verbündeten das Kriegführen für die westlichen Interessen überließ, so wurde nunmehr "Auschwitz" zum Grund dafür, dass die Bundeswehr in alle Welt müsse. 2002 hatte die Regierung solche Argumente gar nicht mehr nötig; Deutschland konnte seine Zuständigkeit für alle Fragen weltweit durch den Afghanistan-Einsatz deutlich machen - nachdem man solange gedrängelt hatte, bis die USA sich dazu bequemten, Deutschland einzuladen. Gar nicht im Widerspruch dazu, sondern konsequent (wenn auch etwas verfrüht) unterstrichen sie im Jahr 2003 durch ihre Opposition gegen den Irakkrieg die eigenständige weltpolitische Rolle Deutschlands gegenüber der Weltmacht Nr. 1 - verfrüht, weil weder Deutschland noch die EU in absehbarer Zeit mit den USA gleichziehen können (was nicht heißt, dass sie in ihren Anstrengungen nachlassen werden). Sie hat Deutschland, das in den 1990ern allen anderen Euro-Ländern einen Stabilitätspakt aufgezwungen hat, eine kostenlose Sonderrolle erkämpft, in der alle anderen Euro-Nationen zähneknirschend das etwas höhere Haushaltsdefizit der Deutschen hinnehmen mussten. Rot-Grün hat - nachdem man einige besonders fiese und dazu auch gar nicht immer billigere Reformen der Kohl-Regierung zurückgenommen hat (verminderte Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Wegfall des Schlechtwettergeld, Meldepflicht beim Arbeitsamt) - die Leistungen von Krankenkassen und Sozialversicherung so eingeschränkt, dass man sich gar nicht mehr traut, krank oder arbeitslos zu werden. Sie hat durch ihre Reformen ein Klima geschaffen, in dem binnen Jahresfrist, Selbstverständlichkeiten wie Urlaubs- und Weihnachtsgeld, dreizehntes Monatsgehalt usw. vom Kapital geschleift werden konnten - aus Angst vor der Arbeitslosigkeit. Unter Rot-Grün sind geregelte Arbeitszeiten, Feiertags- und Überstundenzuschläge vom Normalfall zur sozialen Wohltat geworden, für die Arbeitnehmer dankbar sind. Diese Regierung hat die Arbeitslosen"versicherung" endgültig zu der Unterabteilung des Staatshaushaltes gemacht, die sie schon immer war - in dem sie mit der Vorstellung aufgeräumt hat, die eingezahlten Beiträge hätten irgendeine Beziehung zur Dauer eines halbwegs anständigen Arbeitslosengeldes. Sie hat den Leuten klipp und klar erklärt, dass die Hoffnung, durch die gezahlten Beiträge zur Rentenversicherung irgendwie für das Alter abgesichert zu sein, eine Illusion ist - und hat in Form der Riester-Rente den Leuten ein öffentlich gefördertes, "freiwilliges" Zusatzsparen angeboten. Sie hat das Kapital steuerlich entlastet und die Einnahmeausfälle durch den Verkauf von Staatseigentum wettgemacht - und den selbst geschaffenen Spar-"Zwang" dazu genutzt, die bestehende staatliche Infrastruktur noch effektiver zu organisieren. Das Rot-Grün so als Versagerregierung dasteht in Sachen Arbeitsmarkt, hat sie ironischerweise ihrer Ehrlichkeit zu verdanken: sie hat nämlich den Statistiktrick der Kohl-Regierung von 1983, alle, die kein Arbeitslosengeld (oder die von Rot-Grün abgeschaffte Arbeitslosenhilfe) mehr bekommen, nicht mehr als Arbeitslose zu zählen. Sondern sie hat alle arbeitsfähigen Sozialhilfe-Empfänger wieder in die Arbeitslosenstatistik aufgenommen. Und sie hat Arbeitslosigkeit zu einer wirklichen Existenzbedrohung und Armutssackgasse gemacht - und darum heißen über fünf Millionen Arbeitslose heute auch etwas anderes als 1998.
Auch wenn Rot-Grün demnächst vermutlich abgewählt wird, und die kommende Bundesregierung, wie immer sie zusammengesetzt sein wird, uns Härten servieren wird, die die Vergangenheit mit einem rosigen Schimmer überziehen werden - nichts davon soll ihnen vergessen sein!

Dass sie mit ihrer Strategie völlig erfolglos gewesen sind, wird sich schwerlich sagen lassen. Deutschland ist wieder Exportweltmeister, die DAX-notierten Unternehmen haben Traumgewinne eingefahren, der Euro ist eine recht stabile Währung, also weltweit ein gefragtes Wertaufbewahrungsmittel. Und wie sollte wohl in einer Zeit, in der sich der Hauptkonkurrent USA vom Ideal des "balanced budget" verabschiedet hat und die Entlastung seiner Unternehmen und den Ausbau seiner militärischen Überlegenheit ganz unbedenklich mit Verschuldung finanziert - wie soll Deutschland da wohl seine ambitionierten, nie ganz so ernst gemeinten Vorhaben vom "Abbau der Staatsverschuldung" verwirklichen?
Wenn Schröder, Fischer & Co. damit nicht jenen Erfolg herbeiregieren konnten, um den es ihnen ging - Wirtschaftswachstum, das Steuern und Arbeitsplätze und einen "ausgeglichenen" Haushalt abwirft - dann ist das sicherlich kein Mangel an Anstrengung gewesen. Sondern liegt an dem Verhältnis von Politik und Ökonomie, das (fast) alle hierzulande richtig finden, und das nun einmal bedeutet, dass der Staat eben nicht qua Beschluss Wirtschaftswachstum dekretieren kann und soll. Stattdessen hat er nur die Rahmenbedingungen zu setzen hat, in denen das profitliche Wirtschaften mit hartem, weltweit gültigen Geld, wenn es denn gut läuft, für den Großteil der Arbeitskräfte Beschäftigung und für den Staat Steuereinnahmen abwirft. Ob es gut läuft - das nicht wirklich in der Hand haben zu wollen, ist gerade der Beschluss der modernen Staaten, wenn sie für das sorgen, was so schön "Globalisierung" heißt. (11)

Darum darf man mit Fug und Recht bezweifeln, dass eine CDU/CSU-Regierung es wesentlich anders und erfolgreicher gemacht hätte. (12) Das wissen laut Umfragen die Staatsbürger auch, und wollen trotzdem den Wechsel. Warum?

Alle einverstanden, keiner zufrieden - was ist eigentlich das Problem von Rot-Grün?
Rot-Grün hat 1998 behauptet, Deutschland könne mit ein paar kleinen Reformen viel, viel besser werden und seine Erfolgsbilanz drastisch verbessern. Neben ein paar Modernisierungen, die normalerweise bei jedem Regierungswechsel anfallen, unterschied sich Rot-Grün in 1998-2002 in zwei zentralen Punkten von der konservativ-liberalen Vorgängerkoalition:
a) Wo Kohl & Konsorten immer vor Bedrohungen, Nöten und Risiken der Globalisierung sprachen, die das Kollektiv der Deutschen wie ein Mann schultern müsse, weswegen alle mal richtig verzichten müssten, warben SPD/Grüne mit dem linksliberalen Sockenauszieher "Chancen und Herausforderungen". Ganz im Optimismus, letztendlich werde, wenn der Staat das nur richtig menschlich gestalte, der Markt die Sache schon machen, hatte Rot-Grün die neue Stufe der Durchkapitalisierung der Welt zum ultimativen Selbstverwirklichungsprogramm der Individuen erhoben. Dass das Härten beinhaltet, hat die linksliberale Koalition nie verschwiegen, aber sie hat immer darauf bestanden, das sich das letztendlich für alle, jeden einzelnen, auszahlen wird, auch wenn es vorderhand wehtut.
b) Darum haben SPD/Grüne darauf beharrt, dass der beste Dienst, den der Staat seinem Volk leisten könnte, die "faire" Organisation der Konkurrenz sei. In seinen Entscheidungen solle er sich nicht von irrationalen Kriterien wie Geschlecht, sexueller Orientierung, Hautfarbe, Abstammung beirren lassen, sondern fröhlich alle dazu einladen, sich für Deutschland nützlich zu machen, in dem sie sich selbst verwirklichen. Und nachdem die rot-grüne Regierung zunächst am Rassismus der Deutschen Schiffbruch erlitten hatte (Doppelpass-Kampagne), ist es ihr sogar gelungen, gerade in der "Ausländerfrage" die CDU/CSU vor sich herzutreiben. Dass Deutschland qualifizierte ausländische Arbeitskräfte braucht, das haben die ganzen geschworenen (wenn auch nicht die geschorenen) Ausländerfeinde in diesem Land zähneknirschend gefressen, so dass auch die CDU/CSU Green- und BlueCards gut findet, beim Zuwanderungsgesetz vor allem über die offensichtlich "unnützen" Ausländer stritt und trotz allem den Türkei-Beitritt lieber nicht in den Mittelpunkt des Wahlkampfs stellt.

Niemand zuvor hat jemals, die Tendenz, Arbeiter zu Arbeitskraft-Unternehmern zu machen, so zum Staatsprogramm erhoben, wie Rot-Grün. 1998-2002 äußerte sich das in einem, im Vergleich zu den Gemeinheiten der Hartz-Gesetzgebung schon fast niedlichen, Idealismus, irgendwann werde die richtige Fortbildungsmaßnahme die entsprechende Arbeitskraft schon so ausbilden, dass ein Arbeitsplatz ergattert werden könne.

SPD/Grüne haben mit ihrem Prinzip der "Verfahrensgerechtigkeit" allen linken Gleichstellungsideen konsequent den letzten, vielleicht noch vorhandenen emanzipatorischen Zahn gezogen: Wenn das Verfahren korrekt war, muss das Resultat ausgehalten werden, egal wie es aussieht.

Dieser linksliberale Optimismus, an sich bereits in der besten aller möglichen Welten zu leben, die sich zudem noch auf dem richtigen Weg befindet, hat selbst noch den Zusammenbruch des Neuen Marktes und das Telekom-Aktien-Debakel überstanden, und auch die BSE-Krise oder die Teuro-Debatte hat Rot-Grün mit ernstem Gesicht voller Verantwortung durchgestanden. Und dann kam der 11. September.

Seitdem die USA dem Terror den Krieg erklärt haben und zwar weltweit und zwar zu ihren Bedingungen und nach ihren Definitionen, erschien allgemein das rot-grüne Mantra, die Zukunft werde besser, besser, besser ein bisschen weltfremd. Die Journaille, d.h. die mit politischer Besserwisserei und parteipolitisch neutralem Nationalismus betrauten Knallköpfe in den Redaktionen von Presse, Funk und Fernsehen, hatten spätestens zu diesem Zeitpunkt entschieden: die können das nicht, die müssen weg. Und so haben sie, die schon zuvor recht gallige Kommentare über die angeblichen Dilettanten in Berlin abgelassen haben, versucht die Regierung wegzuschreiben. Das hätte fast geklappt.

Was immer Rot-Grün die zweite Amtszeit beschert hat, während des Wahlkampfes vermittelte der Kanzler mit der "ruhigen Hand" die Gewissheit, an sich sei schon das meiste in Ordnung und Deutschland für die kommende Stürme gut gerüstet. Dass da noch einiges kommen würde - verschwiegen haben sie es nicht. Alle Versprechen wurden unter "Finanzierungsvorbehalt" abgegeben, ein Kassensturz nach den Wahlen angekündigt und einer der Wahlkampf-Gags von Schröder war bekanntlich die Berufung der Hartz-Kommission, deren Pläne in groben Umrissen bekannt waren. Nur in den Mittelpunkt haben sie es nicht gerade gestellt, und gegenüber Stoibers Kritik, Deutschland sei am Ende, auf ihre Erfolge verwiesen.

Als SPD/Grüne im Oktober 2002 dann beschlossen, der Notstand sei da und Deutschland stehe kurz vor dem Untergang, da wirkten sie unweigerlich wie Wahlbetrüger, die nachträglich Stoiber und der böswilligen Presse recht gaben. Und von diesem Makel hat Rot-Grün sich nicht so ganz erholen können. Nicht, weil die bürgerliche Öffentlichkeit nicht ganz schön vergesslich wäre, wenn es in ihr Weltbild passt - Kohl hat es ja auch nicht geschadet, dass er blühende Landschaften versprach und Industriebrachen schuf - sondern weil der Notstand ja das Dauerthema der rot-grünen Reformpolitik 2002-2005 war (unterbrochen vom Irakkrieg). Das linksliberale Märchen, eigentlich seien Staat und Marktwirtschaft ein einziger Dienst am Einzelnen, passt nicht dazu, Krise auszurufen, Untergangsängste zu mobilisieren und Geschlossenheit und Verzicht zu fordern, vor allem dann nicht, wenn man dies eben nicht als eine kurze Übergangszeit ankündigt, der bald bessere Zeiten folgen werden. Der rot-grüne Führungsstil, erst mal durch längere Diskussionen alle an die geplanten Brutalitäten zu gewöhnen und sie dann - ganz verständnisvoll für alle denkbaren Bedenken, unter Beschwörung der "sozialen Gerechtigkeit", bedauerndem Hinweis auf allerlei Sachzwänge und dem Versprechen, mögliche Nachbesserungen zu erwägen - durchzuführen, wirkte eben angesichts der Krise nicht entschlossen und durchsetzungsfähig genug. Vor allem aber könnte das wie eine Bestätigung von möglichen Bedenken wirken, anstatt alle dazu zu vergattern, gefälligst "Ja" zu sagen. Darum ist auch das rot-grüne Ideal der Teilhabe am demokratischen Prozess ist in solchen Zeiten nicht sonderlich zugkräftig. Wo Führung und Geschlossenheit gefragt sind, da wirkt das Ideal, das alle doch irgendwie auch mal was sagen dürfen, und sich dadurch total beteiligt und wahrgenommen fühlen dürfen, denkbar deplatziert. Denn gerade so als ob die blöde Geschichte von der "pluralistischen Konfliktgesellschaft" je wahr gewesen wäre, und der Taubenzüchterverein, der Zentralrat der Roma und Sinti und die Hausfrauengewerkschaft dauernd in bunten Koalitionen ihre Interessen durchsetzen würden - und nicht etwa noch jeder dummbatzige Studentenstreik heute sein Gemecker über Prüfungsordnungen als Dienst am Allgemeinwohl vortragen würde - wurden überall Lobbyisten, Besitzstandswahrer, Reformblockierer und blinde Interessensvertreter ausfindig gemacht, die die notwendigen Schritte verhinderten. Kurzerhand: Das konservative Krisenprogramm, das der Kanzler mit seinen Machtworten durchsetze, passte nicht zu den Erwartungen der SPD-Basis an das linksliberale Programm, das Rot-Grün verkündet hatte. Und darüber sind der SPD die Wähler abhanden gekommen. (13)
"DAS hat nur Rot-Grün durchsetzen können" - ach wirklich?
Seit ca. 25 Jahren hauen die frei gewählten Politiker in den westlichen Industriestaaten ihren unteren Klassen ein Verarmungsprogramm nach dem anderen um die Ohren. Seit den 1970er sinkt Lebensstandard größerer Bevölkerungsteile - was sich nicht bemerkbar macht, weil billige (aber miese) Lebensmittel und immer preiswerteres technisches Gerät dies auszugleichen scheinen. Anders bei denen (insbesondere alleinstehende Mütter, Ältere und Migranten), die in absoluter Armut versinken und nur noch prekäre Beschäftigungen haben. Um sich auf dem aufregenden Weg von der Wiege bis zur Bahre ordentlich den Buckel krumm schuften zu können, ist nunmehr von den Arbeitskräften auch noch Engagement und lebenslanges Lernen gefordert - so dass sie sich selbst in ihrer Freizeit noch benehmen, als säßen sie an der Werkbank. Und nichts davon hat die Leute zu massenhaftem Widerstand gegen den für sie so ruinösen Griff ihrer Vaterländer und Arbeitgeber nach Macht und Reichtum bewegen können. Erst die jüngsten Reformen haben zwar keinen Widerstand, aber doch immerhin kollektiven Unmut ausgelöst.

Keine Frage: Die Reformen der Jahre 2003/2004 bedeuten eine neue Qualität. Rot-Grün hat die bisherige bundesdeutsche Verwaltung von Arbeit und Armut gründlich umgekrempelt. Hartz I-IV heißt die bloße Elendsverwaltung für die überflüssigen Arbeitskräfte, Teile der Arbeiterklasse werden endgültig abgeschrieben - zusammen mit anderen Reformen heißt das die massenhafte staatlich betreute Verwahrlosung von Teilen der Bevölkerung.

Dass dies gerade von einer "linken" Regierung durchgezogen wird, hat zu der interessierten Deutung geführt, NUR eine linke Regierung habe dergleichen durchsetzen können. Ob von klassenkämpferisch-links oder von marktwirtschaftlich-liberaler Seite blüht der Mythos, jede andere Regierung wäre vom Protest davon gewischt worden. Dass muss man sich wohl so vorstellen: Vor 1998 saß der Dicke aus Oggersheim dauernd zitternd im Bonner Kanzleramt, und hat aus Angst vor dem kämpferischen Gewerkschaften und dem vielfältigen bunten Widerstand nur sehr zaghaft die Lebensbedingungen der Arbeiter und Arbeitslosen verschlechtert.

Als Linke kann man sich damit potentielle Macht zusprechen - so machen einem sogar die Kämpfe, die nicht stattfinden, noch Mut. Mit dem Verweis auf die "Kräfteverhältnisse" - wenn da von "Kapital" geredet wird, ist kein ökonomisches Verhältnis gemeint, sondern das Bündnis von BDI und Arbeitgeberverband - erspart man sich auch jede nähere ökonomische Analyse, was der Staat eigentlich mit seiner Reformpolitik will. Die frühere Verwaltung der überflüssigen Eigentumslosen und die bisherigen Rahmenbedingungen, unter denen die Arbeiter ihre Arbeitskraft verkaufen mussten, erscheint dabei in recht mildem Licht. Ihr bisheriger Nutzen für Staat und Kapitel interessiert nicht, auch nicht die Frage, was sich da geändert haben könnte - mit dem schönen Hinweis auf Errungenschaften, Kämpfe der Arbeiterbewegung oder dem Angstfaktor DDR, kann man sich bequem darum herummogeln, mal zu erklären, wozu der Staat seine Sozialabteilung eingerichtet hat. (Dass gerade die Linken die besten Modernisierer für "das Kapital" seien macht ja zusätzlich auch ein bisschen Hoffnung, für die eigene berufliche Zukunft).

Liberale benutzen das, um nicht nur Helmut Kohl, sondern dem ganzen deutschen Sozialstaat nachzusagen, dass er mit seinen Mindestgarantien eigentlich eine ganz konservativ-autoritäre Angelegenheit gewesen sei, geradezu eine paternalistische Bevormundung für freie Bürger. Kurzsichtig hätten sich die - schon von den Nazis verpäppelten - Deutschen einen Sozialstaat geschaffen, und jetzt erst, in letzter Minuten, ächzend unter Sachzwängen, habe Schröder sich getraut, die Notbremse zu ziehen. Dass er dafür bei den Wahlen bestraft wird, lässt betrübte Redakteure der Süddeutschen Zeitung fast schon de ketzerische Frage stellen, ob das Volk eigentlich reif für die Volksherrschaft ist. Mehr Armut = mehr Freiheit, und das mit antifaschistischem Segen - schöner kann man`s ja kaum machen.

Wahr ist an all dem nichts. Es wird uns jetzt zu langweilig, noch mal alles durchzukäuen, was die Regierungen Kohl/Genscher und Kohl/Kinkel vor und nach 1989 alles durchgezogen (§ 116 AFG, Föderale Konsolidierungsprogramm, das Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramm, Standortsicherungsgesetz usw. ) - allein schon die Ausgliederung von Tausenden von Menschen aus der Sozialhilfe durch das Asylbewerberleistungsgesetz von 1993 müsste die Legende vom guten alten Sozialstaat BRD fragwürdig erscheinen lassen.

Es sei an zwei angeblichen "Sündenfällen" bzw. "Wohltaten" erklärt, was den Sozialstaat damals von dem von heute unterscheidet - und was sie gemeinsam haben. Der "Vorruhestandsregelung" von 1984 und der "Pflegeversicherung" von 1994.

Damals in den goldenen 80ern hatte die Regierung des gerade zum Exportweltmeister gewordenen Deutschlands eine super Idee für ihre Unternehmer. Ältere Arbeitnehmer stehen generell unter dem Verdacht, sich nicht so auspumpen zu lassen wie jüngere - weil sie halt schon ausgepumpt sind. Sie einfach zu kündigen, das ging damals nicht an, weil die relative Sicherheit des Arbeitsplatzes eben so schön zum "sozialen Frieden" beitrug, der mit wenig Streiktagen, sehr konstruktiven Gewerkschaften und einer äußerst disziplinierten Arbeiterschaft eine Voraussetzung des deutschen Erfolgs war. Durch eine Gesetzeslücke beendeten damals viele Arbeitgeber "einvernehmlich" den Vertrag und schickten ihre altgewordenen Arbeitskräfte in Rente. Voller Verständnis für den Wunsch der Unternehmer nach frischen Arbeitskräften, aber voller Missbehagen darüber, dies mit der Rentenversicherung zu bezahlen, dachte sich die Regierung ein hoch kompliziertes System aus. Dessen Ergebnis war: Arbeiter konnten schon mit 59 in Rente gehen - mit niedrigeren, nicht steuerfreien Bezügen; Neueinstellungen wurden durch die Bundesanstalt für Arbeit zu einem Drittel subventioniert. Anstatt also die Kapitalisten ihre Versorgung mit frischen und die Entsorgung von überflüssig gewordenen Arbeitskräften selber bezahlen zu lassen, wurde dies erst staatlich subventioniert und später von den "Sozialkassen" übernommen - also offiziell zur Hälfte von den Arbeitern. (14) Diese Dienstleistung am Erfolg des Kapitals gilt heute als völlig unverantwortliche Belastung! Um den sozialen Frieden braucht sich keiner mehr Gedanken zu machen, mit den Gewerkschaften ist Schlitten gefahren worden, und dass man nach 30 Arbeitsjahren entlassen wird, um für 1 (in Worten: einen) Euro pro Stunde plus ALG-II zu arbeiten, gilt als hart, vielleicht zu hart, aber nötig. Jobsicherheit gilt heute als ein einziges Beschäftigungshindernis - und so muss sich die weiß Gott kapitalfromme Regierung Kohl/Genscher nachsagen lassen, die Spendierhosen angehabt zu haben, anstatt den verschlissenen Alten den Weg ins Arbeitsamt gewiesen zu haben.

Dito die "Pflegeversicherung". Anfang der 90er, Deutschland hatte sich gerade die DDR einverleibt und kam damals nicht so ganz damit zu Rande, den politischen Machtzuwachs auch in ökonomischen Erfolg umzusetzen, entdeckte Gesundheitsminister Blüm eine "Pflegelücke". Die war entstanden aus dem politischen Beschluss, dass in Zukunft Krankenkassen und Sozialhilfe nicht mehr für Pflege alter und kranker Menschen zu Hause zuständig sein sollte. Die Aussicht, auch wenn man nicht mehr für Vaterland und Unternehmer schuften kann, noch halbwegs über die Runden zu kommen, hatten schon damals nicht alle, aber sie galt doch als Ausweis für das "soziale" an der Marktwirtschaft. Darum schuf der Staat eine neue Zwangsversicherung, die es für die Leute finanziell attraktiver machte, Oma und Opa zu Hause zu pflegen - ganz im Sinne der konservativen Lehre, dass die Familie die Keimzelle des Staates ist. Und weil die Unternehmen durch die "paritätische Sozialversicherung" dafür mehr Geld hätten ausgeben müssen, beschloss der Staat, sie zu entlasten - in dem er den Arbeitern einen bezahlten Feiertag strich. So bleiben die Krankenkassen-Beiträge so niedrig wie sie sein sollten, wurden also die Unternehmer und der Staat entlastet. Heute, wo Gesundheit und Alter Privatrisiko sind, völlig unbegreiflich! Haben die Leute keine Sparbücher? Nach dem mittlerweile durchgesetzten Niveau an Rücksichtslosigkeit gegenüber der ausgelaugten Arbeitskräften lässt sich einfach kein Grund dafür finden, warum "die Allgemeinheit" für die Probleme einzelner, die sie hätten voraussehen können, aufkommen muss.

So wird der Sozialstaat auf seine systemnotwendige Funktion reduziert: Das bloße Überleben der Überflüssigen zu garantieren. Das steht jetzt auch in jeder Zeitung. Der Unterschied: Die das schreiben, finden das gut. Wir nicht.

Merkels Versprechen: "Mutig" "durchregieren" "ohne Zick-Zack-Kurs"(15)
Was die CDU-Kanzlerkandidatin als ihr Programm ankündigt, das ist - jenseits der Details - eigentlich eine Härte der besonderen Art. Wer etwas über die bundesdeutsche Demokratie wissen möchte, bei der Frau Merkel und den Diskussionen über sie in der deutschen Öffentlichkeit, könnte er/sie alles Wissenswerte lernen.

Die weitgehende inhaltliche Übereinstimmung mit Rot-Grün gibt Merkel in ihrer Kritik an der Bundesregierung bereits zu Protokoll. Nicht geradlinig genug habe diese ihr Programm durchgesetzt, an dem die CDU/CSU wohl nicht allzuviel auszusetzen hat. (Natürlich ist der Vorwurf ein bisschen albern, schließlich hat die Union ja im Bundesrat desöfteren der Koalition zu dem "Zick-Zack" gezwungen, den sie nun so heuchlerisch beklagt. Trotzdem kann sie damit punkten. In den Augen eines führungsgeilen (16) Demokraten spricht es eben ganz grundsätzlich gegen die rot-grüne Regierung, dass die durch die freie Wahlen gebildete Länderkammer die Regierung hin und wieder hindern konnte. So sehen hierzulande die liberalen Demokraten aus!) Wenn Merkel "Deutschlands Chancen besser nutzen" will, dann steckt darin, eine ganz grundsätzliche Zufriedenheit mit dem rot-grün regierten Gemeinwesen und eine ebenso sehr klare Unzufriedenheit mit dessen Abschneiden in der weltweiten Konkurrenz. Sage noch einer, die Parolen der CDU seien inhaltlos!

Wenn CDU-Generalsekretär Kauder scharfsinnig den "Zick-Zack" und das "Nachbessern" der Rot-Grünen für die Krise verantwortlich macht, also den Stil der Politik als das eigentliche Problem behauptet und verspricht durch die neue "Verlässlichkeit" werde überall Optimismus entstehen, dann ist das dumm und wahrscheinlich richtig zugleich. Dumm ist es, weil nur Baron Münchhausen sich aus eigener Kraft am Zopf aus dem Sumpf ziehen kann. Die Ummünzung psychologischer Effekte in reale Reichtumsproduktion auf die Herr Kauder setzt, kann (notabene: kann!) sich aber dann einstellen, wenn sie auf der Berechnung beruhen, am Standort Deutschland ließen sich (wieder) gute Gewinne machen. Und das ist, nach allem, was man so hört und liest, wohl der Fall - die Rot-Grünen haben da wirklich ganze Arbeit geleistet. Die Früchte erntet wohl die CDU. Pech für Schröder.

Bemerkenswert ist auch wie die CDU/CSU ihr Wahlprogramm anpreist: "Klarheit und Wahrheit", heißt hier die Phrase, die besagen will, dass man im Gegensatz zu Rot-Grün den Wählern reinen Wein über Opfer, Verzicht und neue Forderungen einschenkt. Und das tun sie auch. Oder verstehen die Leute etwa nicht, wenn ihnen ein einfacheres Steuersystem versprochen wird, das auf dem Bierdeckel, auf den die Steuererklärung passen soll, keine Pendlerpauschale, keine Ärzterechnungen, kein Absetzen eines Dienstzimmers etc., mehr passt? Dass das heißt, dass es weniger Steuern zurück gibt, also der Staat das Geld behält, das er früher teilweise an seine Bürger zurückgab, wenn sie Gründe für Ausgaben hatten, die er sinnvoll fand? Lässt sich irgend etwas missverstehen an der Ankündigung, mit dem ganzen Gewerkschafts-Schnickschnack (Kündigungsschutz, Tarifvertragstreue usw.) mal so richtig aufzuräumen? Verheimlicht die CDU etwa, das in Zukunft jeder selber kucken muss, ob er sich gesunde Zähne, künstliche Hüftgelenke usw. leisten kann?

Nö, soviel Vertrauen haben die Konservativen in das Volk nämlich doch, dass sie ausgerechnet damit glauben, punkten zu können. Noch klarer wird dies in der öffentlichen Diskussion, wie "mutig" das Programm der Unionschristen sei. "Mut" heißt ja wohl, dass die Union mit ihrem Programm gegen die unmittelbaren Interessen der Bürger regieren will - würde sie allen Gutes tun, bräuchte sie denselben kaum. Dass wiederum diskutiert eine breite Öffentlichkeit unter dem Gesichtspunkt, ob der auch ausreichend ist, ob die angestrebten Reformen weit genug gehen. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Die Leute diskutieren, ob die Partei, die sich um ihre Zustimmung bewirbt, auch über die nötige Härte gegen ihre jeweiligen Privatinteressen verfügt, um für sie wählbar zu sein. Ganz nach dem alten Unfug der bürgerlichen Staatstheorie, einerseits den Menschen für einen Wolf zu halten, unfähig zur Vernunft und jederzeit bereit seinen Mit-Wölfen an Wäsche und Eigentum zu gehen - andererseits aber gerade noch vernünftig genug, das einzusehen und sich qua Gesellschaftsvertrag einem Oberwolf zu unterwerfen: genauso sind die Wahlbürger zwar angeblich so egoistisch, dass sie immer nur an sich denken, aber bei ihrem Wahlakt vorausschauend genug sind, eine Regierung zu wählen, die sie dazu zwingt, für das Allgemeinwohl Opfer zu bringen. Wahrlich an Abstraktionsvermögen mangelt es den Deutschen nicht! Nur an Vernunft.

Populismus - ein verkehrter, aber hochinteressanter Vorwurf
Die Linkspartei, die es innerhalb von zwei Monaten geschafft hat, zum neuen Angstfaktor der regierenden und regierungswilligen Demokraten zu werden, wird gern mit dem Vorwurf konfrontiert, sie sei "populistisch". Diese Kritik sagt recht wenig über das Programm der PDS/WASG/Linkspartei aus - verrät aber einiges über das Verhältnis von Staat und Volk in einer modernen Demokratie.
Zunächst einmal ist der Vorwurf des "Populismus" recht merkwürdig. Dass man volksnah sein und den Willen des Volkes ausführen will - was könnten Demokraten da eigentlich gegen haben? Sicher. Solche Leute wie wir, die Volk & Vaterland verabscheuen, die kritisieren dergleichen, weil sie von der Selbstbestimmung eines Zwangskollektivs von vornherein nichts halten. Aber die Fans der Volksherrschaft, in der alle Staatsgewalt vom Volke ausgehen soll und die den Nutzen des Volkes mehren und Schaden von ihm abwenden wollen, was haben denn die einzuwenden, wenn einer dem Volke auf`s Maul schauen will?
Schon bevor man darauf eingeht, was mit dem Vorwurf des "Populismus" noch gemeint ist, sieht man daran, dass es in der Demokratie nicht einfach auf Volkes Wille ankommt, sondern dass die modernen bürgerlichen Demokraten schon auf bestimmte Inhalte scharf sind. Was das für welche sind und welches Misstrauen da gegen das so hoch verehrte Volk herrscht, dass es dieselben auch mit Herz und Hand vertritt, zeigt sich, wenn man sich ankuckt, warum die Kritik der Linkspartei so furchtbar "populistisch" sein soll. Der Haufen um Gysi und Lafontaine sieht in Hartz I-IV nicht die Rettung des Vaterlandes, sondern ist sehr alternativ-patriotisch der Meinung, dass weitere Verarmung schlecht für Inlandsnachfrage und außerdem sozial ungerecht sei. Damit stehen sie unter dem Verdacht, die materiellen Interessen der Bürger wichtiger zu nehmen als die Notwendigkeiten des Staates. Ganz glauben können SPDCDUFDPGrüne das aber nicht. Weil sich bürgerliche Demokraten alles was sie wollen immer gleich in einen Sachzwang übersetzen - dauernd müssen sie angeblich tun, was sie in Wirklichkeit wollen und können darum nicht das tun, was sie sowieso nicht für sinnvoll halten - haben sie ihre linksparteiliche Konkurrenz im Verdacht, wider besseres Wissen dem dummen Volk zu schmeicheln, um die Wahlen zu gewinnen. Dass Opfer angesagt sind, und das Allgemeinwohl wahrlich nicht das Wohlergehen aller ist, ist ein Dauerbrenner demokratischer Agitation, der immer begleitet von der Sorge ist, ob die Bürger eigentlich "reif" und "verantwortungsbewusst" genug sind, ihre eigenen Interessen hintan zu stellen und den Erfolg der Nation als Grundbedürfnis Nr.1 zu empfinden. Demokratie, das kann man schon aus dieser Kritik lernen, ist eine nationalistische Parteienkonkurrenz um die Ermächtigung die Staatsinteressen durchzusetzen - und zwar "notfalls" (will sagen: in aller Regel) auch gegen das Volk, von dem sie ermächtigt werden wollen. (Das ist übrigens auch logisch: Herrschaft macht ja auch nur Sinn bei sich widerstreitenden Interessen. Würde der Staat tatsächlich nur das ausführen, was sowieso alle wollen, wäre er vollkommen überflüssig).
"Modern", "zukunftsfähig", "nachhaltig" und "verantwortungsvoll" ist darum jene Politik, die dem Volk mitteilt, welche Opfer es zu bringen hat und welche Anstrengungen erwartet werden, und sich mit "Wahrheit und Klarheit" um den Auftrag bemüht, diese Politik qua Staatsgewalt durchzusetzen. Mit der Ermächtigung der Herrschaft durch Wahlen gibt das Volk dazu seine Zustimmung. Idealerweise gibt es dabei weder Bürger, die mit dem Wahlzettel ihre eigenen, kleinlich materiellen Interessen durchsetzen wollen, noch Parteien, die zwecks besseren Abschneiden, sich als Instrument für dergleichen Egoismus und Spezialinteressen zur Verfügung stellen. Und wiewohl die deutsche Demokratie des Jahres 2005 diesem nationalistischen Ideal der vollkommenen Übereinstimmung von Staatsinteresse und Volkswille recht nahe kommt, sind die demokratischen Parteien doch einigermaßen zornig über die bloß maulende, tendenziell unzufriedene und unbegeisterte Zustimmung der Wahlbürger zu den verschiedenen "Reformen", die Deutschland nach herrschender Meinung so braucht. Womit schon mal geklärt wäre, was die regierenden und oppositionellen Demokraten an ihrem Wahlvolk stört.

Aber wie ist das nun eigentlich mit der Linkspartei?

Nicht sonderlich links, aber dafür ziemlich Partei
Wüsste man sonst nichts über die PDS und die WASG, die ganze Gründungsfarce der neuen Linkspartei spräche Bände. Selbst wer verpasst hätte, was die PDS in den Landesregierungen in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern so durchgezogen hat; selbst wenn einem bei der Berufung auf Lohnarbeit und Gerechtigkeit - zwei Idealen des gesellschaftlich hergestellten Mangels par excellence (17) - durch die WASG nicht übel wird, selbst wenn einem entgangen ist, dass die "Wahlalternative" von lauter bis dahin SPD-treuen, stramm antikommunistischen Gewerkschaftsfunktionären zusammen mit den komplett sozialdemokratisierten Überresten des bundesdeutschen Trotzkismus, SAV und Linksruck betrieben wird - die Art und Weise, wie sich diese "neue -Chance für die Linke" etabliert hat, könnte einem auch schon einiges verraten. Zwei Medienpromis, für die nichts spricht, außer dass sie bekannt sind, bestellen eine Parteiumgründung plus Listenfusion - und überlassen den Rest den beiden Parteibasen. Deutlicher als mit ihrer Bereitschaft, die Liste Gysi- und Lafontaine-kompatibel zu machen, hätte die Linkspartei (die WASG ist immer mitgemeint, auch wenn es sich offiziell noch um zwei Parteien handelt) nicht zu Protokoll geben könne, dass der Erfolg in der Wahlkonkurrenz der wichtigste, wenn nicht einzige Maßstab ihres politischen Handelns. Denn für diese beiden Idioten im Quadrat, die noch nie durch einen klugen Gedanken aufgefallen sind, spricht eben nichts - außer, dass sie bekannt sind, und dass man die Hoffnung haben kann, durch ihre Medienpräsenz Wahlerfolge einzuheimsen. Dass feindselige Interesse der bürgerlichen Öffentlichkeit, halten die Linksparteiler für eine ganz wunderbare Gelegenheit Leute mit "Inhalten" zu erreichen: Wie die dann genau aussehen, da darf man dann allerdings nicht zu pingelig sein. Natürlich ist die Hetze gegen Lafontaine von einer Dummheit und Gemeinheit, als wäre der Mann wirklich ein Linker. Die öde Aufregung darum, dass er nicht als Eremit im härenen Gewand herumläuft, ist die gute alte bürgerliche Methode der "Glaubwürdigkeit" - die Frage, ob die Person "würdig" ist, dass man ihr "glauben" kann, ist immer schon eine Absage an die rationale Prüfung der Argumente. (Die sind nämlich richtig oder falsch, ganz jenseits der Frage, wer sie wie und warum geäußert hat.) Was wäre wohl bitte schön los, wenn Lafontaine ein überzogenes Konto hätte und im letzten Loch hausen würde - dann würde sich doch wohl an seine eigene Finanzen zeigen, dass er von der Sache nichts versteht, oder? Wo der Widerspruch zwischen dem PDS-Programm der Armutsbekämpfung und dem privaten Reichtum Lafontaines sein soll, ist ja noch weniger eingängig. Die Aufregung rund um den Fremdarbeiter-Spruch ist einigermaßen bemerkenswert. Denn nicht über den Inhalt haben sich die Leute aufgeregt, sondern über die widerliche, NS-kompatible Formulierung. Das verrät: An der rassistischen Sortierung der Arbeitskräfte in In- und Ausländer besteht kein Zweifel. Auch den Grundsatz "Deutsche zuerst" würden alle unterschreiben. Hakelig wird es immer erst, wenn einer mit NS-Vokabeln das sagt, was der bayrische Ministerpräsident jeden Tag so oder ähnlich von sich gibt. Heuchelei mag man das schon nicht mehr nennen. So normal ist man heute in Deutschland, das einer schon explizit im Nazi-Jargon reden muss, um überhaupt noch kritisierbar zu sein.

Bestechend mit welcher Wahlpropaganda die Linkspartei antritt. "Für eine neue soziale Idee" - schon die alten Ideen haben nicht viel getaugt, das lässt für die neuen nichts gutes erwarten. Auch fragt man sich, auf welchem abgründigen Niveau sich eigentlich die DDR-Materialismus-Schulungen bewegt haben müssen, wenn die SED-Nachfolger nicht für eine neue "soziale Realität", sondern nur für eine andere "Idee" über diese Wirklichkeit eintreten. Nicht mal ihre Marx-Kalauer - "die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt aber drauf an sie zu verändern" und "Jeder Schritt wirklicher Bewegung ist wichtiger als ein Dutzend Programme" - die sie sonst so gern ins Feld führen, wenn Leute mal einen kritischen Gedanken haben, fallen ihnen bei dieser Dödelparole ein. Nun ist Revisionismus nur in Anfängerjahren eine Niveaufrage; diese Partei will gewählt werden - kein Wunder, dass den Parteiprofis ein dummer Spruch nach dem anderen einfällt. Sie wollen ja die unzufriedenen Staatsbürger da abholen, wo sie stehen. Die stehen rechts, da muss die Partei dann wohl hin. Und das macht sie auch. Und zwar nicht nur in der Propaganda - das wäre dann ja wirklich populistisch - sondern in ihrem Programm, das sie ernst meint. Mit "Ideen" hat die Linkspartei es dabei, zum Beispiel mit dem grandiosen Spruch, nichts sei mächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen ist. Diese universell einsetzbare Kalenderweisheit, die weiland auch der damalige FDP-Chef Genscher für den Anschluss der DDR bemühte, ist tatsächlich die anpasslerische Quintessenz des Programms. Die Frage, ob es eigentlich wirklich für eine Idee spricht, wenn unter so ätzenden Verhältnissen wie heute "ihre Zeit" gekommen ist, kann man ja noch historisch-optimistisch - Nacht am tiefsten, Tag am nächsten usw. - wegdiskutieren. Was man aber die Linksparteiler schon nicht mehr fragen mag, ist, was sie denn machen, falls für ihre Ideen mal gerade nicht "die Zeit" gekommen ist. Ohnmächtig das Richtige vertreten, wohl nicht, noch weniger den Zeitläuften, die sie da so flott zur Richterin über Inhalte ernannt haben, eine radikale Kritik zuzumuten oder gar den Kampf ansagen. Wer so scharf auf das "Gestalten" ist, dass er noch 2002 Schröder seine Dienste als Mehrheitsbeschaffer angeboten hat - als SPD-Basis oder als PDS- Tolerierungspartner - wird sich dann ja wohl den Ideen zuwenden, deren Zeit dann "gekommen ist". Dass der Erfolg dem Recht gibt, der ihn hat: Dieser opportunistische Merksatz der abgehalfterten Staatsideologie des Marxismus-Leninismus wird auch der Linkspartei dabei helfen, in Deutschland "anzukommen".

Etwas im Weg sind dabei die Flausen, die die Basen der beiden Parteien haben. Deren alberne Vorstellungen passen nicht dazu "politikfähig" zu werden. Zur Zeit stört das nicht, denn jetzt will man ja erst mal gewählt werden, und da macht es sich ganz gut, sich als kompromissloser Verfechter des Volkszorns hinzustellen und jeden Kompromiss mit SPD/Grüne weit von sich zu weisen. (Wieviel so von dem Zeug glauben, dass sie da erzählen, unterscheidet in dieser Frage die Ideologen von den "Populisten", die es da sicherlich auch gibt). Langfristig will man da aber hin. Das wird noch Ärger geben, aber den haben die Grünen ja auch überlebt. Und die gleichen unbelehrbaren Knallköpfe, die bei jeder linken Sammlung Chancen entdecken, werden "Verrat" schreien und gehen. Und auf das nächste grandiose Projekt warten, als Linke wählbar zu werden - also ihr Programm dem nationalistischen Massengeschmack anzupassen, ohne es substantiell ändern zu wollen.
*
Was ihr jetzt wählen sollt? Da können wir euch wirklich nicht weiterhelfen. Wollen wir auch nicht.



Fußnoten
1 Diese mögliche Übersetzung von "brave new world" (Shakespeare: Der Sturm) gefällt uns in diesem Zusammenhang aus naheliegenden Gründen etwas besser, als die durchgesetzte Übersetzung "schöne neue Welt".

2 Das ist erstens sachlich ziemlicher Schmarrn, weil es in Deutschland durchaus den einen oder anderen Rohstoff gibt - dessen Abbau lohnt sich hierzulande nur meistens nicht. Zweitens ist das ein hölle-dämlicher Gedanke, denn ginge es bloß um die optimale Versorgung, würde man halt für die netten Rohstoffe reizende Produkte aus ihnen und für die schmackhaften Kiwis und Bananen nicht minder interessante Kartoffeln und Stachelbeeren liefern und alles wäre ein einziges Freudenfest. Ein Blick in jeden Weltatlas belehrt einen, dass Armut und Reichtum eines Landes nicht mit dessen Rohstoffvorräten steht und fällt.

3 Das soll angeblich der Untergang der DDR "bewiesen" haben; an dem Schluss stimmt nicht mal der Ausgangspunkt - aber lassen wir das.

4 Mancher Sozialdemokrat will auch Stärke und Größe Deutschlands, um die Welt sozialer, schöner und bunter zu machen. Denkt er zumindest. Wie ehrlich das ist, merkt man am Rück- und Austritt bei entsprechenden Gelegenheiten (Kriegen, Hartz IV etc.).

5 Vgl. MEW Bd. 23, S. 530.

6 Erst durch die nie ganz sooo ernst gemeinten revolutionären Parolen der Sozialdemokraten begriff der Staat, damals fest in der Hand von "Bildung & Besitz", dass ohne Arbeiter kein Staat zu machen ist. Die Nazis waren, wie so oft, da am konsequentesten in der Umsetzung dieser Erkenntnis.

7 Diese These von der bestochenen "Arbeiteraristokratie" hatte Lenin aufgebracht, um zu erklären, warum die Arbeiter in Westeuropa keine Revolution machten. Ausgangspunkt dieser Theorie war, dass Arbeiter durch ihr bloßes Arbeitersein eigentlich Revolution mache wollen müssten und man darum eine Erklärung finden müsste, wenn sie diese "historische Mission" beharrlich nicht erfüllen wollen. Die falsche, pseudomaterialistische Gleichung "Lage = Bewusstsein" ist die Grundlage dieser Theorie, für die nichts spricht.

8 Jusos = Jugendorganisation der SPD, Judos = bis 1982 Jugendorganisation der FDP; beide standen mehrheitlich links von ihren Mutterparteien und redeten sich die sozialliberale Politik als Beginn "systemüberwindender Politik" schön. Aus den Judos sind später die JungdemokratInnen/Junge Linke entstanden.

9 Nur am Rande bemerkt: Eine "Kruste" ist ein "harter Überzug zu etwas Weichem" (Brockhaus), der z.B. beim Brotbacken, beim Schweinebraten oder bei Hautverletzung äußerst sinnvoll ist - es kann verheerende geschmackliche oder gesundheitliche Wirkungen haben, wenn man ihn entfernt.

10 Der Dosenpfand ist eine Idee der Kohl-Regierung und in ihrer konkreten Form ein Produkt der CDU/CSU-Mehrheit im Bundesrat. Das Antidiskriminierungsgesetz beruht zum größten Teil auf einer Richtlinie der EU.

11 Dies ist auch tatsächlich ein Beschluss: Im Rahmen der WTO haben sich die Staaten darauf geeinigt, Subventionen, Zölle, Staatsmonopole usw. als Diskriminierung anzusehen. Allerdings: Bei sich selber sehen das Staaten nicht so eng, wie bei ihren Konkurrenten - und das führt zu allerhand Streit.

12 Wer es denn vergessen hat: Kanzler Kohl regierte 1991-1998 ein Deutschland, in dem permanent von Krise, Rezession, Stagnation die Rede war. Dem Märchen von der "höheren Wirtschaftskompetenz" der CDU/CSU tut das keinen Abbruch - und zwar einfach deswegen, weil die Konservativen etwas ungehemmter die Notwendigkeiten der Kapitalakkumulation betonen, anstatt sie linksliberal zu beschönigen.

13 Das Wahlergebnis wird vermutlich zeigen, dass die SPD-Wähler in erster Linie zu Hause geblieben sind - und nicht etwa massenhaft zur CDU übergewechselt sind. Doch selbst wenn das so sein sollte, wird das der Inszenierung eines "triumphalen Wahlsiegs" und den Auftrag zu einer "wirklichen Wende" nicht weiter stören. Am Ende interessiert eben alle nur der Erfolg - egal, wie er wirklich zustande gekommen ist.

14 Tatsächlich ist auch der angebliche Anteil der Unternehmer ein Bestandteil des Lohns. Aber das erklären wir jetzt nicht, weil es zu weit führen würde.

15 "Die Menschen haben es satt, in einem Zickzackkurs regiert zu werden. Wir brauchen eine Politik aus einem Guss" (Angela Merkel im Deutschen Bundestag am 01.07.2005)

16 Es ist keineswegs bloß Frau Merkel, die dieses Adjektiv verdient - sondern die ganze nationale Öffentlichkeit.

17 Lohnarbeit beruht auf der Trennung von Produktionsmitteln. Gerechtigkeit ist ein Maßstab jenseits der Bedürfnisbefriedigung, der nur bei der Aufteilung sehr beschränkter Ressourcen Sinn machen würde.