13.06.2012 PDF

Leserbrief zum Text "Kritik am Anarchismus"

Bereits Ende 2011 erreichte uns folgender Brief:

Hallo.

 

Ich habe gerade eure Kritik am Anarchismus gelesen. (http://junge-linke.org/kritik-am-anarchismus) Den letzten Punkt, 6, kann ich nicht ganz nachvollziehen. Wieso ist der Anarchismus nichts anderes als eine Form des radikalen Liberalismus? Beziehungsweise interessiert mich, ob ihr das auch bei Bakunin und Kropotkin so entdeckt? Mit letzterem habe ich mich noch nicht so eingehend beschäftigt. Aber Bakunin ist ja eigentlich Vertreter eines kollektiven Sozialismus, der sagt, die Gesellschaft ist Voraussetzung für die Entfaltung des Individuums. Und auch in seinen Schriften zur Revolution fordert er, die Zerstörung von Beziehungen und Dingen und nicht etwa von reichen Menschen. So konnte ich da keinen Individualismus erkennen- aber wenn ihr mir das Gegenteil aufzeigen könnt, fänd' ich das sehr spannend. ( Oder auch Texthinweise zur Kritik an Bakunin und Kropotkin wären interessant!)

 

Viele Grüße,

Nanna.

 

Unsere Antwort:

 

Hallo Nanna,

bitte entschuldige uns, dass wir dir erst jetzt antworten. Um ein Missverständnis zu vermeiden: das mit dem „radikalisierten Liberalismus“ bezog sich auf die Anarchisten vor Bakunin – Godwin, Stirner, Proudhon, sowie späteren Anarchoindividualisten. Ihr Gedankengut lässt sich heute z.B. bei Anarcho-Kapitalisten oder Libertarian Party in den USA wiederfinden.

Unsere Kritik an Bakunin und Kropotkin wäre wirklich eine andere. Aber vorweg: wir positionieren uns gar nicht im Gegensatz: „Kollektivismus – Individualismus“. Denn Kollektiv ist nicht per se was Gutes. Wenn man aber individuelle Bedürfnisse befriedigen will, ist es eine ziemlich schlaue Idee sich mit anderen Individuen zusammenzuschließen und es arbeitsteilig zu machen. Andererseits finden wir nicht per se alles gut, was einzelnen Individuen so durch den Kopf geht – nur weil etwas individuell ist, ist es auch nicht per se vernünftig. Wir streben also eine freiwillige Kollektivität zum Zweck gute Versorgung für jeden Einzelnen zu organisieren. Ob dafür z.B. so was wie Nationalstaat oder Marktwirtschaft nützlich sind, lässt sich aus unseren Texten hoffentlich erschließen. Das ist aber noch was anderes, als (wie manche Anarchisten es tun) zu verkünden: „XY muss weg, weil ich es einfach blöd finde – und wenn ich etwas blöd finde, bedarf es keinen weiteren Begründung“.

 

Aber zu Bakunin: nicht das wir uns irgendwie in seinem Konflikt mit Marx um die Organisationsstruktur der ersten Internationale positionieren wollen. Auch seine Art die Bewunderung für spontane Volksaufruhre mit Projekten anarchistischer Geheimgesellschaften, die bei Aufständen alle Fäden in der Hand halten sollten zu vereinbaren soll hier kein Thema sein. Nur ein Zitat dazu:

Es ist notwendig, daß die Anarchie, die Erhebung aller lokalen Leidenschaften, das Erwachen des spontanen Lebens überall sehr groß sei, damit die Revolution lebendig, wirklich und mächtig ist und bleibt. Die politischen Revolutionäre, die Anhänger der ostensiblen Diktatur empfehlen nach dem ersten Sieg die Beruhigung der Leidenschaften, Ordnung, Vertrauen und Unterwerfung unter die auf revolutionärem Wege errichteten Gewalten. Auf diese Weise stellen sie den Staat wieder her. Wir im Gegenteil werden alle Leidenschaften nähren, erwecken, entfesseln und die Anarchie hervorrufen müssen, und als unsichtbare Lotsen im Volkssturm müssen wir ihn leiten nicht durch eine sichtbare Macht, sondern durch die kollektive Diktatur aller Alliierten. Eine Diktatur ohne Schärpe, ohne Titel, ohne offizielles Recht, die desto mächtiger ist, weil sie keinen Anschein der Macht hat. Dies ist die einzige Diktatur, die ich zulasse. Damit sie aber handeln kann, muß sie vorhanden sein, und dazu muß man sie vorbereiten und im voraus organisieren, denn sie wird nicht ganz von selbst entstehen, weder durch Diskussionen, noch durch Auseinandersetzungen und prinzipielle Debatten, noch durch Volksversammlungen.

(Briefe Bakunins an Albert Richard über die Alliance 1868, 1870“. Michael Bakunin, Gesammelte Werke, Band III; Berlin 1924. Seite 97ff.)

Deinem Brief entnehmen wir, dass dich eher die Gesellschaftsmodell Bakunins interessiert. Sein „kollektivistischer Anarchismus“ bedeutet die Kollektivierung der Produktionmitteln, nicht aber der produzierten Güter. Die Menschen sollen nach ihrer Leistung, nicht nach ihren Bedürfnissen versorgt werden. Es wird also nach wie vor für den Tausch produziert, einige Anarchokollektivisten berufen sich durchaus positiv auf Geld und damit auch auf Marktmechanismen, über deren Wirkung wir in vielen unseren Texten einige kritische Worte verlieren.

Was Kropotkin betrifft: seine biologistische Begründung der Gesellschaftsveränderung („Solidarität als Naturprinzip“ ect.) fällt stark hinter der Erkenntnis zurück, dass es „den Menschen an sich“ (weder den guten, noch den bösen) gar nicht gibt, sondern dass das „das menschliche Wesen kein dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstraktum“ sei. „In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.“ (Marx)

Sowohl am Anfang seiner anarchistischen Tätigkeit, als auch nach 1917 wieder ließ Kropotkin in seinem Modell Elemente von Geldverkehr und freien Handel zu. Ansonsten beschäftigte sich Kropotkin sehr intensiv damit, wie die eine andere Gesellschaft aussehen könnte, sein Beitrag zu Erklärung wie die gegenwärtige kapitalistische Gesellschaft funktioniert, fiel dagegen eher bescheiden aus. Nicht das wir alle seine Einfälle unsympathisch finden würden, aber eine noch so schöne Utopie beweist noch gar nichts gegen die bestehende Ordnung. Kritik am real existierenden Kapitalismus ist was anderes, als ein Vergleich mit seinem Traumschloss.

Wenn man Kropotkins Modell konkret unter die Lupe nimmt, dann will er zwar Bedürfnisbefriedigung für alle, aber erreicht soll es werden durch Verhandlung der autonomen Einheiten untereinander („freie Vereinbarung“). Für eine vernünftige Arbeitsteilung bräuchte man gewisse Planbarkeit, das setzt voraus, dass einzelne Betriebe und Planungsorgane sich grundsätzlich einig sind, dass menschliche Bedürfnisse einen guten Grund für die Produktion von gewünschtem Zeug abgeben. Wenn die untereinander um „günstigere“ Vertragsbedingungen feilschen, so ist es gerade ein Modell aus der freien Marktwirtschaft, die von Interessengegensätzen von Käufern und Verkäufern ausgeht. In seiner Tendenz, Anarchie nicht nur in der Natur, sondern auch in solchen Einrichtungen, wie die internationale Postsystem zu entdecken, kann Kropotkin als Vorläufer von manchen heutigen Empire-Theoretiker gelten, die in jeder Form von Kooperation schon den halbverwirklichten Sozialismus entdecken.

Wir hoffen diese Antwort bringt dich weiter, falls nicht schreib uns bitte, diesmal antworten wir auch schneller, versprochen. Ansonsten werden auf unsere Website demnächst bestimmt mehr Materialien zum Anarchismus stehen.