03.05.2022 PDF

Ist Deutschland „Erinnerungsweltmeister“? (Text und Audio)

- Eine Kritik des deutschen „Gedenknationalismus“ in Bezug auf den NS

Deutschlands Erinnerungskulturen in Bezug auf den Nationalsozialismus (NS) sind besonders. Während in vielen Nationen versucht wird, ein positives Bild der „eigenen“ Nationalgeschichte zu zeichnen, dominiert in der BRD mittlerweile das aktive Erinnern an und die Scham über die Taten Deutscher. Auf diese Erinnerungskultur sind viele Deutsche stolz – ein Fehler.

Um die offizielle bzw. dominante1 Form der Erinnerung an den NS zu verstehen, ist es sinnvoll sich zu vergegenwärtigen, was Nationen sind und welche Bedeutung die Geschichte für sie hat:

„Nationen sind imaginierte Gemeinschaften in realen Gesellschaften“.2 Die Gemeinschaft ist also vorgestellt und somit ein Konstrukt, aber durchaus wirkmächtig. So gut wie jeder Staat definiert sich als Nation über sein „Volk“. Die dazugehörige politische Ideologie, die auf eine positive Identifikation mit dem „eigenen“ Staat abzielt und dafür eine „kollektive Identität“ konstruiert, wird als Patriotismus bzw. Nationalismus3 bezeichnet.

Um diese Identifikation über die Geschichte zu fördern, betreibt jeder Staat Erinnerungspolitik: Die typischen Abläufe von Kriegen, Machtwechseln sowie wirtschaftlichen Auf- und Abschwüngen werden zu einer positiven Nationalgeschichte umgeschrieben mit der Nationen ihre Existenz und Herrschaft legitimieren. In diesem Sinne wird die Geschichte „passend“ gemacht und beinhaltet somit viele falsche, aber wirkungsmächtige nationale Mythen (z.B. der Umgang der Türkei mit dem Genozid an den Armenier*innen; Relativierung und Leugnung von Kolonialverbrechen früherer Kolonialmächte). Die positive Nationalerzählung ist für Patriot*innen also ein Grund stolz auf „ihr“ Land und „ihre“ „nationale Gemeinschaft“ zu sein.4

Auch in der BRD wurde der NS lange Zeit aktiv vergessen, um einen rein positiven Bezug zur „eigenen“ Nationalgeschichte zu ermöglichen. Das offizielle Beschweigen ging gleichzeitig mit Karrieren von Nazi-Tätern, der Verweigerung von Entschädigungszahlungen an Überlebende sowie ein paar halbherzigen offiziellen Entschuldigungen einher. Während der NS in der bundesdeutschen Öffentlichkeit immer wieder kurzzeitig und vereinzelt thematisiert wurde (z.B. Auschwitz Prozesse ab 1963, Braunbuch der DDR 1965, 68er-Bewegung, US-Serie „Holocaust“ 1979), blieb die Schlussstrich-Mentalität aber weiterhin dominierend. Exemplarisch für die Stimmung der 1950-1980er Jahre ist das Zitat des CSU-Politikers Strauß 1969: „Ein Volk, das diese wirtschaftlichen Leistungen vollbracht hat, hat ein Recht darauf, von Auschwitz nichts mehr hören zu wollen.“

Seit der sogenannten „Wiedervereinigung“ änderten sich die staatliche Erinnerungspolitik und somit auch die Erinnerungskulturen in Deutschland grundlegend. Die NS-Gedenkstätten, die bis 1990 mit wenig Geld ausgestattet und somit eher amateurhaft im Nischendasein betrieben wurden, erhielten enorme staatliche Förderung. Die aktive Erinnerung an den NS sollte neues Leitbild der Erinnerungskulturen werden. Aber wie erklärt sich dieser Politikwechsel?

Die Geburt des „Gedenknationalismus“

Mit dem Anschluss der DDR an die BRD entstand in der Mitte Europas ein neues Großdeutschland. Dieses rief insbesondere bei den europäischen Nachbarstaaten Erinnerungen an die vorherigen Versuche Deutschlands, Weltmacht zu werden, wach und erzeugte somit Ängste und Skepsis. Die gewandelte deutsche Erinnerungspolitik sollte nun der Weltöffentlichkeit zeigen, dass dieses mächtigere Deutschland nichts mehr mit dem NS zu tun habe. Der politisch erzeugte „Boom der Gedenkstätten“ war ein wichtiges Mittel dafür.5 Die Gedenkstätten wurden, wie es der jahrelange Leiter der Gedenkstätte von Sachsenhausen Günter Morsch treffend feststellte, zum „Instrument einer neuen außenpolitischen Machtstrategie“.6 Die neue Nationalgeschichte war zudem für die Rechtfertigung von Kriegen hilfreich: Weil Deutschland aus seiner Geschichte gelernt habe und dadurch geläutert sei, habe es nun die moralische Pflicht in der Welt „Verantwortung zu übernehmen“. So passte der Außenminister Fischer die Forderung „Nie wieder Krieg!“ an die Bedingungen des vergrößerten Deutschlands und dessen Weltmachtsambitionen an und legitimierte 1999 mit der Parole „Nie wieder Auschwitz!“ die Bombardierung Jugoslawiens.

Der Wandel der Erinnerungspolitik ist für den deutschen Nationalstaat aber nicht nur in der Außenpolitik nützlich. Auch innenpolitisch kann mit der Erinnerung an den NS um Zustimmung für den eigenen Staat geworben werden. Zumindest Teile der deutschen Nationalist*innen sind stolz darauf, wie gut Deutschland mit seiner Geschichte umgehe, nach dem Motto: „Wir haben so gut unsere Vergangenheit aufgearbeitet“; hierzu ein Beispiel. Als Höcke seine unsägliche „erinnerungspolitische Wende um 180°“ forderte, sah die Antwort des damaligen Außenministers Sigmar Gabriel so aus: „[W]ir versuchen in Politik und Gesellschaft das 'Nie wieder' zur Richtschnur unseres Handelns zu machen. All das ist nicht selbstverständlich. Auf all das bin ich stolz. […] Björn Höcke unterstellt, der Umgang mit unserer Nazi-Vergangenheit mache uns klein. Das Gegenteil ist richtig: Dass wir uns unserer Geschichte gestellt, dass wir aus der Vergangenheit gelernt haben, war die Voraussetzung dafür, dass Deutschland weltweit respektiert wird. Björn Höcke verachtet das Deutschland, auf das ich stolz bin.”7 Offizielles Gedenken findet in Deutschland deswegen auch nicht in Selbstqualen und unter schlechtem Gewissen statt (was, da es eine nationale Identifikation voraussetzt, aber auch nicht vernünftig wäre8), sondern bereitwillig, gerne und mit gutem Gewissen.9 Dieser „Gedenknationalismus“, als geläuterter Nationalismus (Stolz auf die Scham), macht die Shoa und den NS offensiv zum Thema und verschafft sich gerade darüber Legitimation.

Aber die deutsche Erinnerungskultur ist noch aus einem weiteren Grund zu kritisieren. Neben allem anderen Negativem, was sich zum Nationalismus noch sagen lässt, ist er – wie der Name schon verrät – ein wichtiger Bestandteil des Nationalsozialismus und somit auch eine Grundlage für den (eliminatorischen) Antisemitismus. Die NationalsozialistInnen, als stolze Deutsche die sie waren, sahen eben „ihr“ Land durch einen gefährlichen Feind bedroht: „den Juden“.10 Dieser zersetze Deutschland von innen (Sozialdemokratie, Marxismus), und schade Deutschland von außen („Bolschewismus“ und Finanzkapitalismus der Wall Street). Daher war für die patriotischen Deutschen klar: „Dieser Gegner muss mit allen Mitteln bekämpft werden!“ Statt also den Ausgangspunkt des Antisemitismus, nämlich die Parteinahme für Deutschland, zu kritisieren, wird in der deutschen Erinnerungskultur meist gerade diese Parteinahme bestärkt.11

Die rechtsradikale Variante der Erinnerungskultur

Neben diesem ätzenden Selbstlob auf die vermeintliche „Vergangenheitsbewältigung“, das sich auch bei linken Nationalist*innen findet, gibt es eine weitere wichtige Form der Erinnerungskultur, für die insbesondere rechte Nationalist*innen empfänglich sind. Diese wollen von ihrem Staat und ihrer Nation ein durch und durch gutes Bild haben. Unter dem „Gedenknationalismus“ leiden sie also nahezu zwangsläufig. Immerhin weist dieser eine sehr verwinkelte Logik auf: Erst durch die nationalistische Scham über den NS soll man stolz auf ein geläutertes und besseres Deutschland sein. Für viele Patriot*innen ist das nicht einleuchtend, sie halten am Gegensatz von Stolz und Scham fest. Die Unzufriedenheit darüber äußern sie dann in der Relativierung des NS12, der Forderung nach einem Schlussstrich13 oder sogar der Leugnung der Shoa an sich. Seit dem Aufkommen der AfD wird diese – in der Bevölkerung nie unbeliebte – Position nun dauerhaft im Parlament repräsentiert. So bezeichnete Björn Höcke das Holocaust-Mahnmal in Berlin als „Denkmal der Schande“. Alexander Gauland wiederum meinte, Hitler und der NS seien „nur ein Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte“. Auch bei diesem Umgang mit der Erinnerung zeigt sich die Absicht, Deutschland ein Lob auszusprechen – wie im „Gedenknationalismus“.

Sind „wir“ denn nun „Erinnerungsweltmeister“?

Schon die Frage ist falsch gestellt. Die nationale Parteinahme (das „wir“) ist die Grundlage, auf dem Antisemitismus (und allerhand weiterer rechter Dreck) aufbauen. Darum ist es sinnvoll, nicht nur den rechten Umgang mit Erinnerung, sondern auch die gedenknationalistische Variante zu kritisieren: Ein Stolz auf die deutsche Erinnerungspolitik und -kulturen ist weder inhaltlich berechtigt14, noch in irgendeiner Hinsicht wünschenswert. Zwar ist es natürlich sinnvoll, dass an den NS erinnert wird. Es kommt aber stark auf das WIE an.15 Eine nationalistische Instrumentalisierung oder jeglicher Stolz schadet dabei aber nur.

 

1 Die Erinnerungskulturen in der BRD bestehen nicht nur aus dem offiziellen staatlichen/nationalistischen Narrativ. Da dieses aber vorherrschend ist, soll es hier behandelt werden.

2 Sebastian Bischoff/Frank Oliver Sobich: Feinde werden. Zur nationalen Konstruktion existenzieller Gegnerschaft, 2015, S. 11. Diese beziehen sich auf Benedict Anderson: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, 2006.

3 Patriotismus und Nationalismus sollen synonym verwendet werden, da es sich inhaltlich um dasselbe handelt – die Parteinahme für das „eigene“ Land. Die Unterscheidung zwischen einem „guten“ Patriotismus und einem „schlechten“ Nationalismus ist nicht überzeugend.

4 Durch die positive Nationalgeschichte können sich viele Staaten zudem leichter Entschädigungsforderungen entziehen.

5 Günter Morsch: Wider die Instrumentalisierung der Geschichte. Die neue deutsche Erinnerungspolitik seit 1990. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Band 9 (2015), S. 115.

6 Ebenda, 117.

7 Sigmar Gabriel (SPD), 18.01.2017 auf Facebook.

8 Warum nationale Parteinahme generell keine gute Idee ist, können wir hier nicht erläutern (höchstens ein paar Zweifel säen). Weitere Argumente finden sich aber in Texten auf unserer Webseite: https://gegen-kapital-und-nation.org/

9 Ex-Kanzler Schröder sagte einmal über das Holocaust-Mahnmal in Berlin, dass dies ein Ort sein solle „wo man gerne hingeht“.

10 Die NationalsozialistInnen sahen noch mehr Feinde, diese sind aber für die Erklärung des Antisemitismus sekundär.

12 Zum Beispiel durch vermeintliche Vergleiche, die aber unhaltbare Gleichsetzungen sind: „Die Juden machen mit den Palästinensern doch das gleiche, was die Nazis mit den Juden gemacht haben!“

 

13 Es solle Schluss sein mit der „selbstquälerischen Vergangenheitsbewältigung“ (Eckart Jesse) und der „Dauerpräsentation unserer Schande“ (Martin Walser).

14 Mensch denke zudem an die lächerlich geringen Entschädigungszahlungen für einen Großteil der Opfer, die milde Bestrafungen und Reintegrationen früherer NS-Täter in der BRD sowie die verweigerten Reparationszahlungen an die von Deutschland überfallenen Länder.

15 Eine vernünftige Kritik des NS findet sich bei: Rolf Gutte/Freerk Huisken: Alles bewältigt, nichts begriffen. Nationalsozialismus im Unterricht. Eine Kritik der antifaschistischen Erziehung, 2019.