Fragen und Antworten zu Verschwörungstheorien
Inhaltsverzeichnis:
- Was sind Verschwörungstheorien? Sind es überhaupt Theorien?
- Warum glauben Menschen an Verschwörungstheorien?
- Was ist attraktiv an Verschwörungstheorien?
- Wie knüpfen Verschwörungstheorien an das ganz normale bürgerliche Denken an?
- Wie bestätigen wirkliche Skandale scheinbar Verschwörungstheorien?
- Aber Vorstellungen über „Reptilienmenschen“ und Verjüngungsserum aus Kinderblut müssten doch normalen Menschen absurd vorkommen?
- Wie hängen Esoterik und Verschwörungstheorien zusammen?
- Warum sind Verschwörungstheorien Ideologien und nicht bloß Denkfehler?
- Sind Verschwörungstheorien immer hermetisch?
- Welche Unzufriedenheiten sind denn eine Grundlage für Verschwörungstheorien?
- Stecken die Eliten denn nicht alle unter einer Decke?
- Aber was ist mit internationalen Treffen „der Eliten“ beispielsweise beim Weltwirtschaftsforum oder der „Bilderberg Konferenz“?
- Es gibt aber doch Verschwörungen, den „tiefen Staat“ und Geheimbünde?
- Ist das Misstrauen gegen bürgerliche Wissenschaft nicht berechtigt?
- Sind die Medien denn nicht einseitig und verlogen
- Gibt es nationale Besonderheiten bei Verschwörungstheorien?
- Wie ist das Verhältnis von Antisemitismus und Verschwörungstheorien?
- Sind Verschwörungstheorien ‚strukturell antisemitisch‘?
- Welche Rolle spielt „Freiheit“ bei den Coronaprotesten wirklich?
- Sind alle Corona Protestierer*innen rechts?
- Woher kommt das plötzliche Misstrauen gegen den Staat?
- Was sollten Linke tun und nicht tun?
0. Warum noch einen Text über Verschwörungstheorien?
Zu wenig Kritik an Verschwörungstheorien gibt es nicht, aber zu wenig Richtige. Menschen, die diesen Welterklärungsmodellen anhängen seien „zu doof“, sie glaubten an „einfache Erklärungen“ oder es seien Menschen mit psychischen Problemen. Warum also diesen Kritiken noch eine weitere hinzufügen? Wir denken, die gängigen Kritiken an Verschwörungstheorien verharmlosen diese, weil sie sie falsch erklären.
Zwar mögen Verschwörungstheorien zunächst einmal einfach wirken, weil sie nach einem bestimmten Prinzip aufgebaut sind: Was passiert, passiert, weil das jemand geplant hat. Von diesem Plan weiß mensch nichts, weil er geheim ist. Er ist geheim, weil damit etwas Schlechtes beabsichtigt ist. Nur: Inhaltlich sind diese Theorien z.T. aber hochkomplex, weil sie lauter widersprüchliche Beobachtungen mit ihrer Weltsicht versöhnen müssen. Und Verschwörungstheoretiker*innen machen sich ihre eigenen Gedanken über Volk, Nation, „Fremde“, Gerechtigkeit, Freiheit, usw.
Wir behaupten darum: „Einfach“ ist an Verschwörungstheorien gar nichts. In einer Gesellschaft in der ein ständiges Hauen und Stechen um Erfolg stattfindet, ist die Vorstellung von einer „an sich“ guten Gesellschaft, die von „Globalisten“, „Echsen“ oder ähnliches vergiftet werde – vieles. Nur nicht einfach.
In diesem Text nehmen wir uns einerseits vor, das Bedürfnis und die Gründe für die Vielzahl an Verschwörungstheorien aufzudecken. Dabei wird sich zeigen, dass und wie Verschwörungstheorien etwas mit dem üblichen Denken zu tun haben.
1. Was sind Verschwörungstheorien? Sind es überhaupt Theorien?
Wikipedia definiert das so
„Als Verschwörungstheorie wird im weitesten Sinne der Versuch bezeichnet, einen Zustand, ein Ereignis oder eine Entwicklung durch eine Verschwörung zu erklären, also durch das zielgerichtete, konspirative Wirken einer meist kleinen Gruppe von Akteuren zu einem oftmals illegalen oder illegitimen Zweck.“1
Das ist erst mal richtig, würde so aber auch auf Verschwörungshypothesen zutreffen. Verschwörungshypothesen sind nachvollziehbare Annahmen aufgrund von Indizien, dass es eine Verschwörung gegeben hat, also geheime illegale Absprachen, illegales Vorgehen von Sicherheitsbehörden, politische Intrigen usw., wie zum Beispiel in der Watergate-Affäre, beim Ausspähen der SPD durch den Bundesnachrichtendienst in den 1950er und 1960er Jahren, den Staatsstreichplänen der Loge P2 in Italien usw.
Häufig wird behauptet, so absurden Konstrukten wie Verschwörungstheorien dürfe der Ehrentitel „Theorie“ nicht zuerkannt werden, sondern es wäre besser von Verschwörungsglauben oder Verschwörungsideologien zu sprechen. Selbstverständlich glauben die Menschen an Verschwörungstheorien und Ideologien sind es auch. Aus folgenden Gründen nennen wir sie aber dennoch Theorien: Zumindest im Alltagssprachgebrauch tragen viele Behauptungen und Vorstellungen ganz unangefochten den Titel Theorie. Sie sind aber ähnlich absurd wie Verschwörungstheorien – die Trickle-down-Theorie, nach der auch die Armen wohlhabender werden, wenn die Reichen immer reicher werden, ist jedenfalls nicht weniger absurd und genauso empirisch widerlegt, wie die Theorie, die Erde sei eine Scheibe.
2. Warum glauben Menschen an Verschwörungstheorien?
Die banale Antwort ist, weil sie daran glauben wollen. Das ist natürlich unbefriedigend. Woher kommt der Wille zum Glauben? Auch darauf kann es keine Antwort geben, die wirklich für alle Fälle zutreffend ist. Oftmals ist die Suche von einem großen Erstaunen begleitet: wie kommen denn Leute auf so etwas? Da müssen, so die Vermutung, irgendwelche Dinge eine Rolle spielen, die zu so einem abwegigen Denken führen. Das erstaunte Suchen nach Ursachen für verschwörungstheoretisches Denken ist erstmal selber ganz schön erstaunlich: Hat dieses Denken mit dem Rest der Vorstellungen in dieser Gesellschaft wirklich nichts zu tun? Gibt es da keine Ähnlichkeiten zum ganz normalen Alltagsverstand? Wir meinen schon, dass es da eine Reihe von Ähnlichkeiten, Gemeinsamkeiten und Ansatzpunkten gibt. (s. Frage 4). Darum finden wir es schräg, wenn Leute sich mit Verschwörungstheorien beschäftigen, ohne sich mit ihren Inhalten beschäftigen zu wollen, sondern in erster Linie nach äußeren Faktoren (z.B. Bildungsgrad) suchen, die dieses „völlig verrückte“ Denken hervorbringen sollen.
Aber hat menschliches Denken und Fühlen wirklich „Ursachen“, die es determinieren (und damit klar vorhersagbar machen)? Sehr zweifelhaft, um nicht zu sagen: Falsch! Weder Wirtschaftskrisen, Pandemien, soziale Lage oder Abstiegsängste, noch irgendetwas anderes sind in dem Sinne „Erklärungen“ für Verschwörungstheorien, als dass irgendwer gezwungen wäre, daraus den Schluss zu ziehen, dass es eine große Verschwörung gäbe. (Das aber wäre so, wenn es eine Ursache wäre!) Wenn das Leute massenhaft tun, ist das zwar offensichtlich mehr als individuelles Abdrehen. Das heißt aber nicht, dass sie so denken müssten. Sondern sie wollen das wohl so tun. Es ist auch offensichtlich, dass das nichts mit bloßer Un- oder Halbbildung zu tun hat (sonst gäbe es ja wohl keine studierten Verschwörungsgläubigen). Wer verstehen will, warum Leute Verschwörungstheorien plausibel finden und glauben wollen, muss zeigen, was an ihnen attraktiv ist, wo sie an übliche Denkweisen anknüpfen und wo sie auch bestimmten Interessen und Unzufriedenheiten entgegenkommen. Stellen wir die Frage also noch mal etwas anders:
3. Was ist attraktiv an Verschwörungstheorien?
Mit der Annahme eines geheimen ursprünglichen Plans lässt sich erstens allerhand sehr schön erklären. Vieles, was passiert, folgt einem Prinzip, nämlich der schlechten Absicht. Damit der Plan geheim bleibt, muss seine Existenz verschleiert werden. Also kann alles, was so nicht erklärt werden kann, zum Beispiel als Täuschungsmanöver zur Verschleierung der Existenz des Plans interpretiert werden. Ab diesem Punkt ist die Theorie hermetisch, d.h. selbst die Sachen, die sie widerlegen müssten, scheinen sie zu bestätigen.
Zweitens passt dies sehr gut zu der Denkweise, die sich viele Menschen angewöhnt haben – nämlich immer und zuerst zu fragen, wer hier wieder welches Interesse verfolgt. In der Welt der Konkurrenz ist die Verfolgung der eigenen Interessen ja auch ein Muss. Bei der Besprechung z.B. von Politik in der öffentlichen Debatte ist das auch ein Dauerbrenner: Regelmäßig werden die Interessen hinter Sachverhalten, Entwicklungen und Entscheidungen benannt und im Regelfall am „Allgemeinwohl“ und moralischen Werten gemessen (und häufig dafür kritisiert, beiden nicht zu entsprechen). Die Vorstellung einer geheimen Verschwörung im Interesse der Reichen und Mächtigen für irgendwelche schädlichen Interessen ist nur die Anwendung des Grundsatzes: „Cui bono?“ – wem es nützt, der*die ist auch dafür verantwortlich.
Drittens gibt diese Vorstellung auch jedwedem Unbehagen an den Zuständen dieser Welt irgendwie recht. Und das, ohne dass die Prinzipien der Gesellschaft oder die anerkannten Werte infrage gestellt werden müssten und mensch sich zudem sogar als Verteidiger dieser Prinzipien und Werte sehen kann. Es ist sozusagen eine Kritik ganz ohne Kritik an den herrschenden Werten. Jedoch kann mensch sich damit sehr oppositionell zur Gesellschaft fühlen. Und das, obwohl mensch eigentlich nur ihr Ideal bestätigt: nämlich eigentlich eine ganz prima Gemeinschaft zu sein, in der es aufgrund von schlechten Menschen mit bösen Interessen und niederer Moral nicht so gut läuft, wie es eigentlich müsste. Dabei wird davon ausgegangen, dass Marktwirtschaft, Rechtsstaat und die nationale Gemeinschaft nicht schuld an den beanstandeten Zuständen sein können, sondern dass dafür nur Regelverstöße und Missbräuche verantwortlich sein können (wie das genau funktioniert: s. Frage 10). Statt also vernünftige System- und Gesellschaftskritik zu betreiben, werden einzelne Schuldige gesucht und gefunden. So kann mensch dann im Namen der herrschenden Werte, ja sogar der herrschenden Ordnung lauter „Missstände“ anprangern. Bloß weil Verschwörungstheoretiker*innen sich als die eigentlichen Vertreter*innen der herrschenden Ordnung und Werte sehen, bedeutet das aber nicht, dass sie dafür soziale Anerkennung erhalten. Im Gegenteil: Einer Verschwörungstheorie anzuhängen, führt häufig zu gesellschaftlicher Ausgrenzung.
Viertens möchten viele Leute eine einmal hart erarbeitete Meinung nur ungerne ändern, denn dies wird häufig als ein Schlag gegen das eigene Selbstbild gesehen. Dann ist eine Weltsicht attraktiv, die mensch nicht ändern muss, weil sich jedes widersprechende Faktum mit genügend geistigen Verrenkungen in sie integrieren lässt. Dies gilt umso mehr, wenn die Theorie nicht nur einen Aspekt der Welt erklären soll, sondern eine Allerklärung liefert, also quasi einen Universalschlüssel. Denn dann bedeutet eine Infragestellung dieser Erklärung eine Erschütterung des kompletten Weltbildes eines Menschen. Dazu kommt, dass Verschwörungstheorien jedenfalls, wenn sie gesellschaftlich geächtet sind, dazu führen, dass mensch nur noch mit Gleichgesinnten Kontakt hat. Diese Bubble verliert mensch, wenn er*sie sich von der Verschwörungstheorie abwendet.
Fünftens verschafft eine solche Theorie einem zumindest das gute Gefühl, die Sache durchschaut zu haben, und sich zumindest geistig über Verhältnisse zu erheben, an denen mensch aus diesen oder jenen Gründen Kritik hat, ohne diese Verhältnisse wirklich infrage stellen zu müssen. Das hebt einen dann doch von den ganzen Schafköpfen ab, die weiter den „Lügen“ der Herrschenden und der Medien glauben.
Sechstens ist die Behauptung, es gehe nicht mit rechten Dingen zu, auch eine gute Entschuldigung für Leute, die ihrer Ansicht nach in der Konkurrenz nicht gut genug abgeschnitten haben. Ihr „Scheitern“ – immer gemessen an den üblichen Erfolgsnormen – liegt nicht daran, dass es bei der Konkurrenz notwendig Verlierer*innen geben muss. Sondern entweder an üblen Machenschaften von Leuten, die die Konkurrenz verfälscht haben, oder an der brutalen Ausgrenzung von scharfsichtigen Leuten wie ihnen selbst, durch finstere Interessensgruppen und/oder „Schlafschafe“.
Damit erlaubt das Gefühl, ein Opfer finsterer Machenschaften zu sein, siebtens radikale Mittel anzuwenden: Selbstviktimisierung als Selbstermächtigung zur Grenzübertretung. Und so also im Namen von lauter anerkannten Werten die gültigen Regeln nicht mehr zu akzeptieren, und den eigenen Ärger und Frust so richtig auszuagieren: Von der nicht getragenen Maske bis hin zur Vorbereitung eines Staatsstreichs. A rebel with a just cause…
Na, und das alles ist doch ganz schön attraktiv – wenn mensch sowas attraktiv findet.
Manche dieser Punkte finden sich aber auch bei anderen Ideologien, sie sind also keine Alleinstellungsmerkmale von Verschwörungstheorien. Dass Verschwörungstheorien in so vielen Punkten ähnlich zu anderen gängigen Ideologien des normalen bürgerlichen Denkens sind (Erklärungen von Missständen und Schäden durch Schuldsuche z.B. Korruption, „Ausländer nehmen uns die Arbeitsplätze weg“,…), macht den Übergang zu ihnen leicht.
4. Wie knüpfen Verschwörungstheorien an das ganz normale bürgerliche Denken an?
Verschwörungstheoretiker*innen wollen ein Muster erkennen, in einer Welt, in der es häufig heißt, alles hänge mit allem zusammen. Dieser vorgestellte „Allzusammenhang“ läuft darauf hinaus, dass es keine Zufälle gibt, sondern die Welt „eigentlich“ ein geordnetes Ganzes ist, in dem nichts ohne Grund geschieht. Unordnungen und Probleme sind in dieser Weltsicht dann weder Zufall, noch haben sie ihren Grund in der Gesellschaftsstruktur oder der politischen Herrschaft. Sondern sie seien auf böse Akteur*innen zurückzuführen, die ihre Interessen als „Zufall“ tarnen wollen, damit ihnen niemand auf die Schliche komme. Darum würden die wenigen Leute, die sich keinen Sand in die Augen streuen lassen oder per Zufall die „wahren Zusammenhänge“ erkannt haben, dann als Verschwörungstheoretiker*innen verleumdet.
Das führt dann regelmäßig dazu, Sachen, die scheinbar oder wirklich gleichzeitig auftreten, für notwendig in einem Verhältnis zueinander zu sehen (z.B. eins als die Ursache des anderen, oder beides als Ausdruck eines Dritten), egal ob das stimmt. Also: Weil der Ausbau der 5G-Netze zum Zeitpunkt der Corona-Pandemie stattfindet, muss (!) es einen Zusammenhang geben.
Diesen Fehlschluss gibt es häufig: Aber Korrelation (gleichzeitiges Auftreten) ist nun mal nicht Kausalität (Ursache-Wirkung): Es könnte eine gemeinsame Ursache geben und es könnte auch gar keinen Zusammenhang geben.2 Neben diesem Denkfehler, gegen den übrigens auch bürgerliche Wissenschaftler*innen nicht gefeit sind, gibt es noch weitere Anknüpfungspunkte im alltäglichen Denken:
• Analogieschlüsse (weil die Schweinegrippe H1N1 2009/10 nicht so schlimm war, wie vorhergesagt, wird es Covid19-SARS2 schon auch nicht sein)
• Misstrauen gegen Wissenschaft („alles bloß Theorie“; dass die Expert*innen sich nicht einig sind, und ihre Aussagen sogar ändern, wird nicht als Erkenntnisfortschritt gesehen, sondern zeige ja, dass sie's auch nicht besser wüssten)
• Ressentiments gegen Eliten („die da oben stecken doch alle unter einer Decke“)
• Beharren auf dem „gesunden Menschenverstand“ („mir machen die nix vor, ich weiß doch wie die Welt aussieht!“, „meine Lebenserfahrung sagt mir“)
• Personalisierung des Unpersönlichen: Hinter den „Sachzwängen“ stecken Menschen, die sie durchsetzen (was stimmt) und dabei nur ihr geheimes Interesse verfolgen (was nicht stimmt). Dass z.B. Kapitalismus und Nationalstaat wirklich miese „Sachzwänge“ hervorbringen, die alle befolgen müssen, wenn sie das Interesse haben, erfolgreich zu sein – das wollen viele Leute nicht glauben. Sie üben sich lieber im:
• Moralischen Fahndungseifer: Wer nichts über Ursachen wissen will, sucht eben nach Schuldigen, die dann angehasst werden können. Ist doch auch schöner, „gut“ und „böse“ zu kennen, als z.B. ein blödes Virus, das in Zellen eindringt, und sich da vermehrt, als Ursache anzunehmen.
5. Wie bestätigen wirkliche Skandale scheinbar Verschwörungstheorien?
In der Empirie lassen sich Beispiele finden, die dem Misstrauen gegen offizielle Stellen erstmal recht geben:
• Medikamentenskandale gab es einige und auch Beispiele dafür, dass sich erst nach großflächigem Einsatz herausstellte, dass die Nebenwirkungen eines Medikaments doch härter waren als nach den Studien zunächst angenommen.
• Westliche Medizinhilfsorganisationen haben im globalen Süden nebenbei Bevölkerungspolitik betrieben.
• Nicht immer ist die Trennung von Geschäftsinteressen und parallel betriebener gemeinnütziger Organisation so trennscharf, wie Unternehmen gerne behaupten.
• Die Politik arbeitet Gesetze aus, die weitreichende Wirkung haben, aber gar nicht prominent in der Öffentlichkeit vorgestellt werden („Hinterzimmerpolitik“).
• Unternehmen wollen mit Lobbyarbeit auf die Regierungstätigkeit Einfluss nehmen und umgekehrt gibt es Bestechungs-Skandale.
• Geheimdienste wirken – wie der Name nahelegt – im Geheimen und entwickeln dabei durchaus ein Eigenleben.
• Der Staat und seine Dienste haben die Überwachungsmöglichkeiten systematisch ausgebaut und tun das auch weiterhin; Versuche der Beeinflussung von Verhalten, ohne dass Leute dies merken, gibt es einige.
All diese Aspekte sind Anknüpfungspunkte, wo Leute (nicht nur Verschwörungstheoretiker*innen) einhaken und sagen, dass ja auch nicht alles falsch sei, was da gesagt werde. Die Beispiele sind es ja auch nicht (immer), wohl aber die Interpretation.
Das Aufdecken einer Verletzung von Regeln oder die Verheimlichung von Information oder beides verursacht oft einen Skandal. Wenn Leute sich an dem Skandal stören, können sie diesen auf zweierlei Weise interpretieren: 1. Als Beweis, wie gut das „System“ – was immer darunter verstanden wird – und seine (Selbst-) Kontrollmechanismen funktionieren.3 So wird dann – bei aller Empörung über die Regelverletzung – das verletzte Gerechtigkeitsgefühl wiederhergestellt, indem Leute in Wirklichkeit oder auch nur nachträglich-moralisch verurteilt werden. So machen es die meisten Menschen, und gehen kopfschüttelnd, aber zufrieden zur Tagesordnung über. An den Gründen für die Regelverletzung wird im Regelfall nichts geändert, höchstens bessere Gegenmaßnahmen gefordert.
Oder aber 2.: Der aufgedeckte Skandal beweise nur, was bisher versucht wurde zu vertuschen und zu verschleiern, und dass da vermutlich noch viel mehr im Busch sei. Eine Verlängerung davon ist, darauf zu bestehen, dass diese Aufdeckung nur ein unvermeidbares Zugeständnis war, um die anderen viel größeren und schlimmeren Schweinereien zu verdecken. Die übliche Salamitaktik der jeweiligen Übeltäter*innen bestätigt dieses Vorurteil natürlich: Es wird nach Möglichkeit immer nur genau so viel zugegeben, wie schon öffentlich bekannt ist, um weitere Ermittlungen abzuwenden oder zu erschweren. Das ist dann der Übergang zur „Querdenkerei“. Auch hier wird gar nicht nach den Gründen für die Regeln und die Regelverletzung gesucht, sondern es wird sich auf die Schuldsuche begeben. Da wird dann die Schlechtigkeit der Betreffenden festgestellt, denen darum alles Mögliche zuzutrauen sei. Mensch schaut sich also nicht die wirklichen Interessen von Staat und Kapital an. Förderung des Wirtschaftswachstums und Gewinnmaximierung würden zum Beispiel sehr gut erklären, warum Aufsichtsbehörden zwei Monate lang tatenlos zuguckten, wie in halb Europa Leute mit salmonellenverseuchten Eiern vergiftet wurden. Sondern es wird mit dem Vorurteil, wenn etwas schieflaufe, müssten böswillige Figuren die anerkannten Regeln verletzt haben, nach einer Verschwörung gesucht. Und die wird dann auch gefunden.
6. Aber Vorstellungen über „Reptilienmenschen“ und Verjüngungsserum aus Kinderblut müssten doch normalen Menschen absurd vorkommen?
Obskure Theorien waren und sind weit verbreitet, ebenso mystische Vorstellungen („es gibt mehr zwischen Himmel und Erde, als unsere Schulweisheit sich träumen lässt“). Kettenbriefe verbreiten sich immer noch; beachtlich viele Leute hatten 2010 Angst vor dem Weltuntergang gemäß Maya-Kalender. Irrationale Theorien über das Leben, den Planeten, die Menschheit usw. sind als „Esoterik“, „Waldorf-Pädagogik“, „Gaia-Hypothese“ usw. keineswegs randständig. Offensichtlich ist es so, dass bestimmte Irrationalismen gesellschaftlich anerkannt sind und einige nicht. Das hängt aber nicht mit ihrer Absurdität zusammen.
Es lässt sich auch kaum behaupten, dass Politik und Qualitätspresse mit solchen Irrationalismen nichts zu tun hätten. Bekanntlich pflegt der Staat eine ganze Abteilung der Gesellschaft unter dem Stichpunkt Religion, die nichts anderes tut, als zu behaupten, dass geheime übernatürliche Mächte am Wirken seien. Einige davon, die der Staat besonders anerkennt, dürfen in vielen Bundesländern ihre Dogmen sogar als ganz normalen Unterrichtsstoff behandeln lassen. In sich seriös gebenden Zeitungen, die sich gerne über Aluhüte lustig machen, werden regelmäßig Horoskope abgedruckt. Diese behaupten bisher naturwissenschaftlich nicht bewiesene Zusammenhänge zwischen Sternkonstellationen und privatem Erfolg. In Waldorfschulen lässt der Staat auf der Grundlage einer wissenschaftlich nicht begründbaren Theorie („Anthroposophie“) Teile des Nachwuchses beschulen, auch wenn niemand sagen kann, woher Hr. Steiner sein „Wissen“ über die Sieben-Jahres-Schritte bei der Entwicklung des „Ätherleibes“ her hat. Und manche Krankenkasse hat mittlerweile so genannte „Naturheilverfahren“ in ihren Katalog aufgenommen, die recht häufig auf esoterischen Theorien beruhen und deren Wirksamkeit, die eines Placebos nicht übersteigt.
Was „normalen“ Menschen alles so „normal“ erscheint…
7. Wie hängen Esoterik und Verschwörungstheorien zusammen?
Alle Formen der Esoterik, wie auch die meisten Religionen, haben mit Verschwörungstheorien mehrere Gemeinsamkeiten, weswegen es auch kein Wunder ist, dass Menschen aus der Esoterik-Szene und religiöse Fundamentalist*innen häufig Verschwörungstheorien anhängen. Esoteriker*innen sind davon überzeugt, dass es unsichtbare, übernatürliche Mächte gibt, die rational schwer oder gar nicht beweisbar sind, und über die es Wissen gibt, das nicht allgemein zugänglich ist. In vielen Religionen gibt es zudem böse Mächte (Teufel, Dämonen usw.), die versuchen, die Menschen zu täuschen und ihnen damit zu schaden. Und damit sie das besser tun können, versuchen sie auch die eigene Existenz zu verschleiern. Religiöse und esoterische Menschen sind zudem bereit zu glauben, und wehren Forderungen nach Beweisen oder logischer Plausibilität zumeist ab.
Das sind alles keine zwingenden Gründe, als Esoteriker*in oder religiöser Mensch an Verschwörungstheorien zu glauben, oder als Verschwörungstheoretiker*in religiös oder esoterisch zu werden. Aber sehr weit ist der Weg jeweils nicht.
8. Warum sind Verschwörungstheorien Ideologien und nicht bloß Denkfehler?
Verschwörungstheorien als Versuch, sich einen Reim auf die Welt von Konkurrenz und Herrschaft zu machen, sind in dem Sinne „eigensinnig“ weil sie, unzufrieden mit den herrschenden Angeboten von Deutung und Sinnstiftung, eigene Wege gehen. Rein formal gesehen handelt es sich um unreflektierte Hypothesenbildung, die sich nur mangelhaft um die empirische Überprüfung der eigenen Aussage kümmert. Wie bei allen Ideologien, geht es hier aber nicht bloß um Denkfehler, sondern um den Willen zum Glauben. Wo der herkommt, ist das eigentlich Interessante (s. Frage 3).
Das aber macht den Unterschied zum bloßen Irrtum aus: Ideologien sind interessengeleitete Fehldeutungen, an denen Leute darum auch festhalten wollen. Sie sind daher eben nicht erleichtert, dass es keine Weltverschwörung gibt, die hinter ihnen her ist und dass keine Echsenmenschen sie chippen wollen, sondern verteidigen ihre „Erkenntnisse“ mit allen möglichen Mitteln: Ableugnung von Fakten, Ignorieren von Widersprüchen, Themenwechsel (z.B. zu Schwachstellen offizieller Erklärungen) usw. Weil sie an ihre Ideologie glauben wollen, sind sie für Argumente dagegen schwer erreichbar.
9. Sind Verschwörungstheorien immer hermetisch?
Zumindest haben sie dafür großes Potenzial. Wenn ich überzeugt davon bin, dass es eine große Verschwörung von mächtigen Gruppen gibt, macht es absolut Sinn, dass diese Verschwörung versucht, ihre Existenz zu vertuschen. Darum ist auch eine dünne „Beweislage“ ausreichend: Die Verschwörung habe an einer Stelle ausnahmsweise einen Fehler gemacht, und ihn nicht schnell genug beseitigen können. Durch diese kleine Nachlässigkeit haben ihre scharfsichtigen Kritiker*innen erkennen können, wie der Hase hoppelt. Gegen alle Argumente lässt sich zudem sagen, dass diese von der Verschwörung produziert worden seien, um die eigene Existenz zu verschleiern. Fakten, die nicht zu der Verschwörungsvorstellung passen oder sie sogar in Frage stellen, wurden absichtlich produziert, um zu verwirren. Und so wird eigentlich alles, was sich gegen die Verschwörungstheorie sagen lässt, zum „Indiz“ oder sogar „Beweis“, dass es die Verschwörung gibt.
10. Welche Unzufriedenheiten sind denn eine Grundlage für Verschwörungstheorien?
Fast alle Bürger*innen sind mit den Leistungen „ihres“ Staates unzufrieden und haben so einiges zu meckern. Das ist kein Zufall, denn der Staat ge- und verbietet so einiges, setzt bestimmte Verhältnisse durch und erzwingt, erlaubt und verbietet dadurch bestimmte Formen, die eigenen Interessen zu verfolgen. Für viele ist das kein besonders gutes Geschäft.
Um damit gut geistig klarzukommen, legen sich viele Menschen eine interessengeleitete Fehlinterpretation der Verhältnisse zu, in die sie sich einfügen wollen:
• Wo der Staat Rechte gewährt (also auch kassieren kann), wollen die meisten Bürger*innen Rechte sehen, die sie ganz selbstverständlich hätten, ganz unabhängig vom Staat: Menschenrechte.
• Wo der Staat sein Handeln selbst durch Gesetze steuert (Rechtsstaat), meinen viele Bürger*innen selbstverständliche Rechte und Pflichten entdecken zu können, die der Staat nicht übertreten und auch nicht ändern dürfe.
• Wo der Staat Gesetze erlässt, die seinem Interesse dienen sollen, halten viele Bürger*innen das für einen Dienst an ihren Interessen.
• Wo der Staat Steuern verlangt, ergibt sich für Bürger*innen als Gegenleistung das Recht auf eine Regierungspolitik, die ihnen dient.
Woran sich die Unzufriedenheit bei einer Person aufhängt, und wo sie dann auch mal grundsätzlicher wird, wird von allerhand Dingen beeinflusst. Von der Klassenlage, den Umständen, woran mensch persönlich in einem Karriereweg scheitert, aber darüber hinaus auch von Zufälligkeiten im Sinne von
• Was fällt einem überhaupt auf?
• Wo richtet sich das Interesse besonders drauf?
• Wo sind eigene Erwartungen und Ansprüche nicht erfüllt worden?
Im Laufe des Lebens häufen Bürger*innen so manche Eindrücke an: Dass die Rechte und Pflichten in der Nation nicht „gerecht“ verteilt seien, scheinbare oder wirkliche Versprechen nicht eingehalten, Ideale verletzt und eigene Erwartungen nicht erfüllt würden. Das verarbeiten die Bürger*innen auf unterschiedliche Weise, zum Beispiel „immer noch besser als anderswo“, „wenigstens dürfen wir den Mund aufmachen“, „lass mich bloß damit in Ruhe“, „Hauptsache gesund / anständig geblieben“, „ich lass mir nichts mehr bieten“ (von wem auch immer), „wer weiß wofür es gut ist“.
Oder aber: Nur einem Staat, der seinem Volk diene, sei mensch zum Gehorsam verpflichtet; einem Staat, der das nicht tue, sei mensch nicht nur keinen Gehorsam schuldig, sondern habe sogar die Pflicht, ihn zu bekämpfen. Das Ziel müsse sein, dass die Symbiose von Volk und Staat wieder hergestellt werde. Was natürlich die Frage aufwirft, wer diese Symbiose stört oder sogar zerstört haben soll. Und solche Einstellungen sind dann eine gute Grundlage für Verschwörungstheorien.
Nationalstaat und Kapitalismus sind mit einer solchen „Erklärung“ fein aus dem Schneider, an ihnen liegt es ja schon mal nicht, sondern an irgendwelchen Schuldigen. Denn das will solchen Kritiker*innen auf keinen Fall in den Kopf:
• Dass es gerade die Durchsetzung des „Allgemeinwohls“ und der „nationalen Interessen“ ist, die ihnen ihr Leben so schwer macht,
• dass der Zwangszusammenhang „Volk“ alles andere als eine kuschelige Gemeinschaft ist, in der es allen gut gehen könnte, wenn sich alle an die Regeln hielten, sondern ein Haufen von Konkurrent*innen,
• dass der Staat genau darin seinem Volk dient, dass er es zum Material von Herrschaft und Profit macht, um in der internationalen Konkurrenz um Macht und Reichtum gut dazustehen,
• und dass sich das alles nur ändern lässt, wenn die politischen und gesellschaftlichen Grundlagen dafür sehr grundlegend geändert werden.
Wer das nicht will, weil er*sie eigentlich ganz einverstanden mit den Prinzipien von Wirtschaft und Staat ist, hat dann einiges zu tun, um sich die Welt unzufrieden zu „erklären“, ohne sie wirklich vernünftig zu kritisieren. Eine Möglichkeit hierfür ist es, sich dann Verschwörungen oder einen „tiefen Staat“ herbeifabulieren.
11. Stecken die Eliten denn nicht alle unter einer Decke?
Die Formulierung „die Eliten“ ist so schön unbestimmt, dass sich darunter jede*r alles vorstellen kann. Wenn es dabei um Leute aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Medien geht, lässt sich Folgendes sagen: die Decke, unter der sie stecken, ist Schwarz-Rot-Gold und heißt Deutschland. Anders ausgedrückt: die häufige Einigkeit, die es zwischen dem Großteil der Politik, vielen Unternehmer*innen, führenden Wissenschaftler*innen und vielen Leuten, die in den Medien ihr Geld verdienen, gibt, ist nicht Teil einer absichtlichen Absprache. Sondern sie erwächst aus ihrer grundsätzlich positiven und konstruktiven Haltung zu dieser Gesellschaft und ihrem Staat. Die Haltung der Politiker*innen folgt aus ihrem Willen, die Gesellschaft am Laufen zu halten und die Interessen des Staates durchzusetzen (bzw. nachzuweisen, dass sie das besser könnten als die bestehende Regierung). Die Leute, die so schön „die Wirtschaft“ heißen, weil sie wissen: Reichtumsvermehrung klappt am besten bei einer funktionierenden Gesellschaft mit einem durchsetzungsstarken Staat. Und die Medien und die Wissenschaft, weil sich in ihnen lauter Leute tummeln, die – genau wie die meisten „normalen Leute“ – die bestehende Gesellschaft für die bestmögliche halten. Dass sie dabei alle miteinander wetteifern, wie Deutschland am besten und sinnvollsten vorankommt, und dies auch als Konkurrenz untereinander austragen, erklärt dann auch Streitigkeiten und Kontroversen.
12. Aber was ist mit internationalen Treffen „der Eliten“ beispielsweise beim Weltwirtschaftsforum oder der „Bilderberg Konferenz“?
Solche und ähnliche Treffen gibt es. Beim Weltwirtschaftsforum (WEF) und bei der Bilderberg Konferenz treffen sich insbesondere hochrangige Politiker*innen und erfolgreiche Unternehmer*innen, um über Themen der Weltpolitik zu debattieren. Dabei gibt es durchaus unterschiedliche Teilnehmer*innenkreise: Während bei der Bilderberg Konferenz vor allem Vertreter*innen des „Westens“ teilnehmen, sind beim Weltwirtschaftsforum häufig z.B. auch China und Russland vertreten (wenn nicht gerade Krieg ist).
Diese Treffen dienen der Koordination von Politik, dem Networking, dem Vorbereiten von Kompromissen – aber auch der Konkurrenz und dem Austragen von Konflikten, dem Ausloten und Behaupten von Positionen, und der Klärung von Machtverhältnissen. Dabei gibt es unterschiedliche Formate mit unterschiedlicher Wichtigkeit und Eingebildetheit der Teilnehmenden.
Verschwörungstheoretiker*innen behaupten, dass dort „die Eliten“ eine geheime Weltregierung bildeten und die Geschicke der Welt bestimmen würden. Nun sind diese Eliten aber keineswegs ein homogener Block mit einheitlichen Interessen, sondern eben Politiker*innen verschiedener Staaten und CEOs verschiedener Unternehmen. Sie stehen in Konkurrenz zueinander. Eine Einigkeit zwischen ihnen gibt es dort z.B. soweit gemeinsame imperialistische Interessen verfolgt werden (beispielsweise der gemeinsame Versuch westlicher Staaten den Einfluss Chinas einzudämmen). Wie brüchig diese Einigkeit aber ist, zeigten nicht zuletzt die Konflikte „des Westens“ in der Ära Trump. Aber nicht nur für die westlichen politischen, sondern auch für die wirtschaftlichen Eliten, lässt sich nur eine bedingte Einigkeit feststellen: Einig sind sie sich darin, dass ihnen beispielsweise die chinesische Konkurrenz möglichst vom Hals gehalten oder Unternehmenssteuern gesenkt werden sollen. In vielen anderen Fragen zeigen sich aber handfeste Interessensgegensätze von Unternehmer*innen (z.B. welche Branchen/Unternehmen gefördert werden sollen). „Die Wirtschaft“ ist eben nicht ein Akteur, sondern setzt sich aus miteinander konkurrierenden Unternehmen zusammen, die ihren Profit gegeneinander erzielen.
Zudem sollte mensch sich keine Illusionen machen. Eine Politik, die zu Lasten von Lohnabhängigen und Natur geht, kriegen Staatenlenker*innen auch ganz ohne (geheime) internationale „Elitentreffen“ hin. Die lebensfeindliche Politik ergibt sich aus dem Staatsprogramm, eine kapitalistische Wirtschaft zur Reichtumsvermehrung zu verwenden. Hierfür sind Mensch und Natur für Staat und Kapital das Mittel.
13. Es gibt aber doch Verschwörungen, den „tiefen Staat“ und Geheimbünde?
Selbstverständlich gibt es Verschwörungen nicht nur in der Einbildung von Verschwörungstheoretiker*innen, sondern auch in der Wirklichkeit (Beispiele s. Frage 5). Und in den meisten Staaten führen die „Sicherheitsbehörden“ ein relativ gering kontrolliertes Eigenleben. Gerade in Staaten, die ihrem Volk misstrauen, gibt es immer wieder Absprachen zwischen bestimmten Eliten, um zu verhindern, dass bestimmte politische Entscheidungen oder Weichenstellungen getroffen oder auch nur diskutiert werden, und Vertuschungsaktionen bei der Ausschaltung von Oppositionellen. Solche geheimen Machtstrukturen werden häufig als „tiefer Staat“ bezeichnet.
Zusätzlich: Zur bürgerlichen Politik gehören Intrigen geradezu dazu, z.B. Durchstechen von Informationen, Absprachen zur Postenbesetzung usw. Und zur bürgerlichen Kultur gehörten lange Zeit, mehr oder weniger geheime Männerbünde, wie zum Beispiel die Freimaurer oder die Rosenkreuzer, mit einer Mischung aus esoterischen Spinnkram und Wichtigtuerei. Daneben gab und gibt es auch geschlossene Gesellschaften, in die man(n) nicht so einfach eintreten kann.
Das festzustellen ist aber was ganz anderes, als alle möglichen Ereignisse auf eine geheime Verschwörung zurückzuführen, oder die aktuelle Entwicklung der Welt auf einen geheimen Plan. Sehr viel besser lässt sie sich nämlich durch eine vernünftige Analyse von Kapitalismus und nationalstaatlicher Konkurrenz erklären.
Auffällig ist zudem, dass gerade rechtsradikale Leute, die von der Existenz von Verschwörungen überzeugt sind, sich berechtigt sehen, „Gegenverschwörungen“ zu organisieren. Oftmals scheint die Existenz von wirklichen oder ausgedachten Verschwörungen nur ein Legitimationstitel zu sein, selbst einen Geheimbund (z.B. Nordkreuz) zu gründen.
14. Sind Zweifel an der bürgerlichen Wissenschaft nicht berechtigt?
Selbstverständlich! Zum einen gehören Zweifel und Misstrauen zur Wissenschaft selbst dazu: eine Aussage ist nicht schon deswegen richtig, weil sie von Wissenschaftler*innen getätigt wurde. Es gehört zum wissenschaftlichen Fortschritt dazu, dass nicht alle Phänomene sofort erklärbar sind. So kann es durchaus Phasen geben, in denen es unterschiedliche Erklärungen für die selbe Erscheinung gibt, weil der Erkenntnisstand noch nicht genügt, um sich für eine davon zu entscheiden. Der Streit über die unterschiedlichen Erklärungen gehört notwendig zum wissenschaftlichen Fortschritt. An diesen Streit knüpfen Verschwörungstheoretiker*innen an. Am Anfang gab es die Einschätzung, dass Masken nicht gut gegen die Übertragung des Virus schützen, und diese Einschätzung wurde später aufgrund neuer Erkenntnisse revidiert. Aus solchen Veränderungen des wissenschaftlichen Forschungsstandes leiten Verschwörungstheoretiker*innen ab, dass der Wissenschaft generell nicht zu trauen sei.
Zum anderen ist der bürgerliche Wissenschaftsbetrieb selbstverständlich nicht bloß ein Apparat zur Wahrheitsfindung; in ihm geht es häufig um ganz andere Dinge (Forschungsgelder, Stellenbesetzungen, Prestige, Nobelpreise usw.). Neben der prinzipiell konstruktiven und positiven Haltung von Wissenschaftler*innen zur existierenden Staats- und Gesellschaftsordnung gibt es auch noch einen Haufen Verquickungen z.B. mit der Chemie- und der Pharmaindustrie. Wer das bestreitet und dazu auffordert, einfach den Autoritäten zu glauben, macht sich ein bisschen lächerlich.
Daraus aber zu ziehen, dass alle Forschungsergebnisse der bürgerlichen Wissenschaft Humbug seien und sich darum berechtigt zu fühlen, ohne je auch nur in ein Elektronenmikroskop geschaut zu haben, die Existenz eines Virus zu bestreiten, ist etwas anderes. Es ist nämlich das eine, darüber zu reflektieren, dass auch Diskussionen und Kontroversen in der Wissenschaft nicht immer nur unter dem Aspekt der Wahrheit geführt werden. Daraus folgt nämlich nur, auch bei schwierigeren Fragen, die sich eventuell tatsächlich nur im Labor beantworten lassen, aufmerksam zu bleiben, ob Wissenschaftler*innen bei der Interpretation ihrer Ergebnisse oder beim Aufstellen der Versuchsanordnung nicht, evtl. interessensgeleitete Denkfehler passiert sind.
Es ist etwas ganz anderes, Wissenschaft für völlig unerheblich zu halten und zu glauben, mit ein bisschen Internetrecherche, dem eigenen Schulwissen über Biologie und ein paar kräftigen Vorurteilen, viel besser erklären zu können, wie die Welt aussieht. Der Gegensatz zu Expert*innengläubigkeit ist nicht Ignoranz.
15. Sind die Medien denn nicht einseitig und verlogen?
Dass die meisten Medien keine Foren für linke Gesellschaftskritik sind, und die Journalist*innen mit Anliegen und Analysen, die ihnen nicht in den weltanschaulichen Kram passen, auch nicht unbedingt sachlich umgehen, ist wohl kein Geheimnis. Auch dass die Medien durch Gewichtung und Beachtung direkt und indirekt, bewusst und unbewusst auf die „Meinungsbildung“ der Bevölkerung Einfluss nehmen, ist vermutlich vielen klar. Direkte Lügen gibt es auch sowie eine auch sehr offensichtliche Hetze, zum Beispiel in der Springer-Presse.
Nur: der gute alte Vorwurf „Lügenpresse“ unterstellt absichtliche Wahrheitsverzerrung durch die Journaille. So reflektiert sind die Medienschaffenden aber zumeist nicht, sondern genauso bornierte Ideolog*innen und Nationalist*innen wie die meisten Mitglieder der Gesellschaft (s. Frage 11).
16. Gibt es nationale Besonderheiten bei Verschwörungstheorien?
Auf jeden Fall, auch wenn Verschwörungstheorien häufig global sind, soll zumeist die eigene Nation verteidigt werden, mit ihren Eigentümlichkeiten. In Deutschland gibt es zum Beispiel den Widerspruch, einerseits für Deutschlands Größe, Macht, Unabhängigkeit, Souveränität usw. Partei zu ergreifen. Andererseits aber soll mensch den bislang weitreichendsten, temporär auch erfolgreichen, Versuch der Nazis verdammen, die deutsche Souveränität ganz radikal als Germanisches Rassenimperium zu verwirklichen. Zusätzlich und deswegen soll mensch bei der Beurteilung des II. Weltkrieges nachträglich die Partei der Kriegsgegner ergreifen, und nicht die der Groß- und Urgroßväter. Und das, obwohl die USA, Großbritannien, Russland und Frankreich heute ja auch Konkurrenten sind, mit denen die deutsche Politik auch manchen Interessensgegensatz pflegt.
Da wird dem nationalistischen Verstand einiges zugemutet; und wer es etwas bruchloser mag, und das eigene Land nicht nur mit „gebrochenem Herzen“ lieben will, der wird die Gedankenfigur, das arme deutsche Volk sei wahlweise das Opfer von US-Konzernen oder gleich der jüdischen Weltverschwörung, dankbar annehmen. So liebt sich’s leichter.
17. Wie ist das Verhältnis von Antisemitismus und Verschwörungstheorien?
Verschwörungstheorien haben tatsächlich eine innere Verwandtschaft mit dem Antisemitismus. In beiden Fällen werden tatsächliche oder empfundene Missstände auf das verborgene Wirken einer böswilligen Gruppe zurückgeführt. Von einer x-beliebigen Verschwörungstheorie zum Antisemitismus braucht es dann noch zwei Schritte. Erstens, den bösen Willen und den Egoismus als quasi unveränderliche Charaktereigenschaften festzumachen. Und zweitens, alle tatsächlichen oder vermeintlichen Übel einer kleinen, für Nationalist*innen sowieso irgendwie problematischen und nicht zum eigenen Land gehörenden Gruppe anzulasten, die im Verborgenen wirke. Und so wird alles, was an Übeln vorher schon aufgestoßen ist und nicht so richtig erklärbar war, zum Argument gegen „die Juden“.
18. Sind Verschwörungstheorien ‚strukturell antisemitisch‘?
Weil Verschwörungstheorien häufig eine personalisierende Kapitalismuskritik (statt einer Systemkritik werden einzelne Schuldige gefunden) haben und weil der Übergang zum Antisemitismus so leicht ist, werden sie mitunter gerne als ‚strukturell antisemitisch‘ bezeichnet. Damit sollen sie dann auch schon widerlegt sein. Das geht aber an der Sache vorbei. Mit ‚strukturell antisemitisch‘ soll ja gesagt werden, dass diese Art von Kapitalismuskritik zum Antisemitismus führe oder sogar schon antisemitisch sei, auch wenn an Jüd*innen noch gar nicht gedacht sei. Aber eine Kritikerin der angeblich übergroßen Macht des Finanzsektors wie z.B. Sahra Wagenknecht muss als Grund für das angeblich schädliche Treiben der Finanzunternehmen nicht notwendig eine jüdische Weltverschwörung ausmachen.4 Das ist ein möglicher Übergang aus dem falschen Gedanken, der aber nicht zwingend aus ihm folgt. Deswegen hilft die Charakterisierung eines Standpunktes als ‚strukturell antisemitisch‘ bei der Kritik eines Fehlers auch nicht weiter. Anstatt de*r Verschwörungstheoretiker*in eine mögliche Fortsetzung des Fehlers als eigentlich schon mitgedacht zu unterstellen (und die Diskussion damit auf die Ebene von Unterstellungen herunterzubringen, was die Verschwörungsgläubige die ganze Zeit über eigentlich denken würde), wäre aufzuzeigen, warum eine Verschwörungstheorie als moralische und personalisierende Kapitalismuskritik ihren Gegenstand falsch kritisiert; unabhängig davon, ob an Jüd*innen gedacht ist oder nicht.
19. Welche Rolle spielte „Freiheit“ bei den Coronaprotesten wirklich?
Bürgerliche Freiheit ist das Recht auf vernunft- und argumentlose Willkür im Rahmen der geltenden Gesetze. Diesen Freibrief zur Blödheit, das Recht nichts einzusehen und verstehen zu müssen, sich borniert zu Argumenten und Fakten zu stellen, nehmen die Proteste praktisch in Anspruch.
Sie entzünden sich in Coronazeiten daran, dass der Staat plötzlich den Rahmen der Betätigung der eigenen Willkür sehr viel enger gefasst hat. Das war nicht in allen Einzelheiten logisch nachvollziehbar und erfolgte nicht immer gemäß den in der Verfassung vorgesehenen Verfahren. Vor allem wurde es aber mit dem solidarischen Zusammenhalt der Gesellschaft begründet. Das hat einiges Misstrauen hervorgerufen. Das wurde dadurch verschärft, dass sich im Laufe des allgemeinen Lockdowns auch die wissenschaftlichen Erkenntnisse verändert und erweitert haben, und einige Annahmen sich nicht als richtig, oder als nicht so wichtig erwiesen haben. Tatsächlich sind die als objektiv dargestellten Maßnahmen zum Teil nur ein Ergebnis einer Spekulation des Herrschaftspersonals gewesen, von dem die wissenschaftlichen Erkenntnisse politisch interpretiert wurden. Alle bürgerlichen Subjekte kennen die Masche, dass mensch sein eigenes Interesse als Allgemeininteresse verpacken muss. Dann ist es naheliegend, dass Menschen, denen die Maßnahmen aus welchen Gründen auch immer nicht gepasst haben, vermuten, dass das hier auch der Fall war. Und versucht darum, den Gemeinschaftszwang zur Solidarität in Coronazeiten dadurch zu delegitimieren, dass er als Unterdrückung gegeißelt wird, hinter der ganz andere Interessen (Gesundheitsdiktatur, Profit, Überwachungsstaat, usw.) stünden.
Gegen die moralische Verpflichtung auf Zustimmung zu den Coronamaßnahmen in der bürgerlichen Öffentlichkeit polemisieren die „Querdenker*innen“ im Namen der Freiheit gegen eine „Gesinnungsdiktatur“. Und gegen die wissenschaftlichen Aussagen, auf denen die politischen Interpretationen und die staatlichen Maßnahmen beruhen, beharren sie darauf, dass es da ja verschiedene Meinungen gäbe.
Lange Zeit hielt auch die bürgerliche Öffentlichkeit das Nebeneinander von wissenschaftlichen Aussagen, Halbwissen, Gesinnung und Spinnerei für einen wünschenswerten Pluralismus. In vielen Diskussionen wurden dabei auch gerne Fakten als Ansichtssache betrachtet. Seit einiger Zeit wird verstärkt darauf hingewiesen, jede*r habe zwar das Recht auf eine eigene Meinung, aber nicht auf eigene Fakten. Das sehen auch die meisten Protestierer*innen so, nur glauben sie dem Staat und der bürgerlichen Wissenschaft ihre Fakten nicht. Sie vermuten, dass diese Fakten, Denkweisen und Ansätze zu unterdrücken versuchen, um eigene Interessen durchzusetzen. Dagegen wollen sie dann die „Freiheit“ verteidigen.
Das passt ganz gut zum Freiheitsgedanken der AfD und anderer Rechter, die ihre Freiheit verteidigen, rassistisch, antisemitisch, völkisch usw. zu argumentieren, ohne dafür ausgegrenzt zu werden. Wenn die Protestierer*innen von Freiheit reden, dann meinen sie also zumeist ihre Freiheit, an ihren Überzeugungen festzuhalten, ohne sich um Argumente und Kritik scheren zu müssen. Sie meinen auch häufig ihre Freiheit, ihre Überzeugungen herauszuposaunen, ohne dafür kritisiert zu werden. So klappt es, dass auch Leute die Russland, Ungarn, Polen etc. als politische Vorbilder haben, sich nun als Vorkämpfer*innen für Grundrechte aufbrezeln.
20. Sind alle Corona Protestierer*innen rechts?
Bestimmt gibt es neben den Rechtsradikalen auch die tatsächlich besorgten Bürger*innen, diesen Begriff jetzt ohne Ironie verwendet: Zum einen diejenigen, denen bei den ganzen Beschränkungen mulmig wurde und denen die vorhandenen Widersprüche im staatlichen Handeln aufgefallen und die dann auf komische Erklärungen gekommen sind. Zum anderen gab es auch Gruppen, die von den Beschränkungen existentiell betroffen waren und die den Widerspruch zwischen nationaler Solidaritätsrhetorik und realer Verwaltungspraxis am eigenen Leib erfahren haben. Als dritte Gruppe wird es auch eine Reihe von Leuten gegeben haben, die an den Beschränkungen und Isolierungen erst verzweifelt sind, und dann angefangen haben, an allem zu zweifeln. Und dann gibt es noch die, die schon immer der Meinung waren, dass die derzeitige Herrschaft den Laden absichtlich vor die Wand fährt und die hier nur neues Material für ihr bereits feststehendes Urteil finden und in all diesen Gruppen Rekrutierungspotential sehen.
21. Woher kommt das plötzliche Misstrauen gegen den Staat?
Das ist gar nicht plötzlich. Der bürgerliche Staat mutet seinen Bürger*innen eine äußerst widersprüchliche Denkfigur zu. Zum einen sollen die Bürger*innen glauben, dass alle Menschen Wölfe seien, die ohne Herrschaft in Verfolgung ihrer Interessen übereinander herfallen würden. Zum anderen sollen sie aber glauben, dass die Herrschaft sie davor beschütze und selber keine Interessen habe, als ihnen diesen Schutz zu gewähren.
Dieser Widerspruch zwischen einem negativen Menschenbild und einem Ideal guter Herrschaft lässt sich auf zwei Weisen auflösen. Zum einen wird der Staat als das Gute, das die Gemeinschaft gegen die bösen und blöden Einzelnen schützt, gesehen, und um Vertrauen in die Institutionen von Staat und Gesellschaft geworben. Zum anderen, und damit haben wir es hier zu tun, wird ein prinzipielles Misstrauen gepredigt: Die (aktuellen) Herrschenden seien auch Menschen, also selbstsüchtig und wollten darum vermutlich etwas Böses; nach Ansicht der meisten Verschwörungstheoretiker*innen sollten sie durch ein anderes Herrschaftspersonal ersetzt werden, das wieder dem eigentlichen Zweck des Staates dienen würde (der Zweck des Staats sei dann der „Dienst am Volk“). Eigentlich ist das ja auch ein - allerdings unvermeidbarer - Widerspruch in sich, einerseits von der politischen Herrschaft Abstraktion von allen Einzelinteressen zu fordern und andererseits Individuen mit der Herrschaftsausübung zu betrauen, die als Mitglieder dieser Gesellschaft Einzelinteressen haben müssen.
Dieses vom Ideal einer guten Herrschaft beseelte Misstrauen gegen den Staat sollte Mensch nicht mit richtiger Gesellschaftskritik verwechseln. Es ist das eine nachzuweisen, dass aus den Prinzipien von Staat und Kapital die Rücksichtslosigkeit gegen Arbeiter*innen und Natur entspringt, und dass darum Nationalstaaten, wenn sie von ihrem Volk Schaden abwenden und seinen Nutzen mehren wollen, keineswegs vorhaben, ein gutes Leben für alle einzuführen. Es ist was anderes zu glauben, all die ungemütlichen und brutalen Wirkungen nationaler Politik und kapitalistischer Geschäftstätigkeit resultierten aus bösem Willen, Egoismus, Korruption, Geldgier, Machtstreben. Die Verlagerung objektiver Gemeinheiten in die subjektive Gehässigkeit ihrer Agent*innen ist kein kleiner Fehler und auch keine Verirrung und auch keine Vorstufe zu vernünftiger Gesellschaftskritik, sondern die Ehrenrettung für ein Gemeinwesen, dessen Prinzipien damit affirmiert werden.
22. Was sind typisch linke Fehler?
Angriffe von rechts führen häufig dazu, dass Linke das Angegriffene in Schutz nehmen, obwohl sie selbst eigentlich eine Kritik daran haben. Andere Linke wiederum sehen in der rechten Kritik vor allem die Kritik und glauben, sie gut in eine linke Kritik überführen zu können. Beides ist falsch.
Das beste Mittel gegen Verschwörungstheorien ist weder die kritiklose Verteidigung von Staat, Gesellschaft, Medien, Wissenschaft usw., noch das Sich-Einschmeicheln in die nationalistische, wissenschaftsfeindliche Unzufriedenheit. Sondern: Aufklärung über die wirklichen Verhältnisse, also zum Beispiel Kritik der staatlichen Gesundheitspolitik als das, was sie ist: die Sicherstellung der Benutzbarkeit der Bevölkerung für Staat und Kapital.5 Dafür nutzt die Gesundheitspolitik auch durchaus wissenschaftliche Erkenntnisse und ist unter den gegebenen Umständen zweckrational. Nur: Damit verfolgt sie keineswegs den Zweck, dass jede*r gesund und glücklich ist. Und sollte damit nicht verwechselt werden.
Aufklärung ist unangenehmer als Glaubenssysteme und Ideologien, weil sie zum Bruch mit dem Bestehenden herausfordert. Aber immerhin eins kann richtige Theorie auch liefern: das Gefühl, Wichtiges und Wesentliches durchschaut zu haben. Mit einem kleinen Unterschied: Bei richtiger Theorie ist dieses Gefühl berechtigt.6
2 Außerdem gibt es noch Mess- und Erhebungsfehler, die einen nicht vorhandenen Zusammenhang andeuten; dies spielt aber im Zusammenhang mit Verschwörungstheorien eher keine Rolle.
3 Dabei ist dann recht egal, ob eine Regierung ihre Opposition ausspähen lässt, oder ein Unternehmen vertuschen will, dass die hergestellte Medizin fiese Nebenwirkungen hat, oder Anwälte das Finanzamt austricksen, oder Leute ihre Beziehungen zur Politik geschäftstauglich zum Geldmachen nutzen. Alles wird nur als eine Störung der moralischen Ordnung verhandelt („Gehört sich nicht!“), die zur Abschreckung mal bestraft werden muss. Häufig tragen dann Mechanismen des Rechtsstaats (Unschuldsvermutung, Verjährung, Prozessfehler) zu einer großen Enttäuschung bei: Ausmaß des Unrechts und Ausmaß der Bestrafung passen für das empörte Rechtsbewusstsein nicht zusammen.
4 Eine Kritik an Wagenknecht von der Frankfurter Gruppe findet ihr in drei Teilen hier: https://gegen-kapital-und-nation.org/von-lenin-zu-lucke-ein-buch-und-seine-weltanschauung/
5 Auf unserer Webpage finden sich Texte zur staatlichen Corona- bzw. Gesundheitspolitik.
6 Mehr von richtiger Theorie über die kapitalistische Produktionsweise findet ihr in unserem Buch „Die Misere hat System: Kapitalismus“, kostenlos als PDF auf unserer Webseite. Gerne könnt ihr uns aber auch davon überzeugen, dass wir falsch liegen!