05.05.2020 PDF

Die Corona-Pandemie und der politisch verhängte Ausnahmezustand

Vorweg: Dieser Text ist Seminar-Skript. Folgende Erläuterungen erklären das Staatshandeln in Zeiten der Corona-Pandemie im Zeitraum bis Mitte April 2020. Auch für die Zeit danach treffen viele Erklärungen noch zu, manche dann nur noch modifiziert, manche schon gar nicht mehr. Als Beispiele wird auf viele Staaten, vor allem aber auf Deutschland Bezug genommen. „Der Staat“ soll dann sagen, dass sich dort ein Prinzip des Regierens findet, dass man in den diversen Beispielen finden kann. Unterschiede im Umgang mit der Corona-Pandemie ergeben sich alleine aus den Voraussetzungen (Wirtschaftskraft, Zustand des Gesundheitssystem usw.) und den darauf aufbauenden unterschiedlichen Kalkulationen. In diesem Text werden die Gründe für diese Unterschiede in der Regel nicht extra erklärt.

Part 1: Der Ausnahmezustand und sein Grund

Anhand des Umgangs mit der Corona-Pandemie reiben sich manche Zeitgenossen die Augen:

- Vielen Geschäftsleuten wird einfach verboten, ihr Geschäft zu betreiben

- Der Staat gebietet national und an seinen Grenzen umfangreiche Reisebeschränkungen; Ausländer dürfen nicht rein

- Er verbietet seinen Bürger*innen, die Wohnungen zu verlassen oder erlaubt nur noch zu bestimmten Zwecken mit einem ausgewählten Personenkreis das Haus zu verlassen

- Er verbietet den Leuten, gemeinsam zu feiern

- Er verbietet Leuten, ihre Verwandten im Pflegeheim zu besuchen

- Demos werden verboten

- Er schließt Kindergärten, Schulen und Unis

- Und er gibt Geld aus wie Heu, teils recht unbürokratisch, d.h. ohne eine lange Prüfung

Die Reden von Sachzwängen, nach dem der Staat wegen der internationalen Standortkonkurrenz dies oder das gar nicht könne oder der Staat nunmal nicht mehr ausgeben könne, als er habe, gelten fast über Nacht nicht mehr. Spätestens seit Mitte März setzt der Staat andere Prioritäten und zeigt, was er sich leisten kann, wenn er es für nötig hält.

Der Staat stellt einen Notstand, einen Ausnahmezustand, den Katastrophenfall (Bayern am 16.03.2020) oder den Fall einer „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“1 fest (Deutscher Bundestag am 27.03.2020). Der Grund liegt nicht einfach nur darin, dass viele Leute an einer Krankheit sterben. In den Großstädten z.B. sterben laufend Leute an den Feinstaubbelastungen, die der Individualverkehr mit sich bringt. Die Feinstaub-Grenzwerte, die der Staat setzt, schließen Tote ein, die er in Abwägung mit dem Nutzen des Individualverkehrs für das Große und Ganze hintanstellt. Und selbst bei den geltenden Grenzwerten reißt der Staat (oder seine kommunalen Untereinheiten, die Städte) ständig diese selbstgesetzte Grenze. Die Politik nimmt in vielen Bereichen gesundheitliche Schädigungen und Tote in Kauf, wenn sie Grenzwerte beschließt oder Riskoabschätzungen macht (z.B. Arbeitsschutzmaßnahmen, Grenzwerte für Pestizidrückstände in Obst und Gemüse, Nutzung der Atomkraft, Klimawandel etc.).

Immer hält sich in solchen Fällen in der Öffentlichkeit (insbesondere in der Linken) das Gerücht, der Staat würde wissenschaftliche Ergebnisse ignorieren und deswegen die Bevölkerung einer Gefahr aussetzen. Das mag auch mal vorkommen, in der Regel lassen sich Regierungen und Parlamente aber durch die Forschung sehr gut informieren und fordert sie auf, Empfehlungen für politische Entscheidungen auszuarbeiten. Die Gefahren und die Möglichkeiten ihrer Abwendung sind der Politik bekannt und auf dieser Basis werden dann politische Güterabwägung gemacht, in deren Resultat sie teils die Empfehlungen der Wissenschaft nicht oder nur zum Teil umsetzt: Beim Arbeiten ergeben sich nun mal Krankheiten, für das Militär braucht es eine eigene Atomforschung, das Wirtschaftswachstum braucht einfach ungeheuer viel Energie usw. So führt der demokratische Staat in „normalen“ Zeiten seinen Zweck durch, bei der Ruinierung von Mensch und Natur durch die kapitalistische Ökonomie, derselben ein gewisses Maß an Grundlagen von Mensch und Natur zu erhalten, damit die Geldvermehrung in seiner Gesellschaft gut klappt.

Im Unterschied z.B. zur Feinstaubbelastung, deren Erklärung und biologische Wirkung auf den menschlichen Körper einigermaßen wissenschaftlich untersucht worden sind, handelt es sich bei Corona um ein neues Virus, das dem wissenschaftlichen Überbau, den sich der Staat leistet, unbekannt ist.2

Zunächst liegen nur vereinzelte Erfahrungen vor, die die Wissenschaft versucht, so gut es geht aufzubereiten (dazu gleich mehr). Dass der Staat aber die Prioritäten in seiner Gesellschaft derart neu setzt (Wirtschaftswachstum muss jetzt auch mal hinten angestellt werden) liegt daran, dass die Eigenschaften des Virus naturwissenschaftlich nicht bewältigt sind, dessen Wirkung daher (oder aufgrund purer verlässlicher Statistik) nicht kalkulierbar ist, die Gegenmittel fehlen und damit eine Basis für die übliche Risikoeinschätzung fehlt: Die professionellen Entscheider*innen in der Politik können so keine verlässliche Risikoabschätzungen machen, wie sie es bei Feinstaubgrenzwerten und in vielen anderen Fällen machen.3

Dass die Volksgesundheit in Hinsicht auf Corona jetzt die Priorität schlechthin in fast allen Staaten ist, hat seinen Grund in dem eben genannten Umstand. Der Weg dahin (Zeitraum Januar bis Ende März 2020) war – in unterschiedlicher Ausprägung – begleitet von Leugnen oder von der Spekulation, ob das Virus das eigene Land selbst so stark überhaupt betreffen werde und die Wirkungen des Virus sich vielleicht doch nicht so stark von herkömmlichen Grippewellen unterscheiden könnten. Hier haben dann a) die faktische Überlastung des Gesundheitswesen und b) die deshalb zusätzlich aufgetretenen Sterbefälle in einigen Ländern plus c) die Modellierungen aus der Wissenschaft, dass diese Überlastung für jedes derzeit bestehende Gesundheitswesen zutreffen werde, die Regierungen nach und nach überzeugt, dass ein „gucken wir mal, wohin sich das entwickelt“, unangebracht ist. Der Normalzustand des gesellschaftlichen Lebens wird unterbrochen, um Zeit zu gewinnen, damit dann der Normalzustand irgendwann wieder eintreten kann: Gesundheitliche Schäden, die sich bei dem kapitalistischen Normalbetrieb ergeben, werden dann – so wie heute und gestern – weiterhin wissenschaftsbasiert abgewogen, also begrenzt zugelassen.

Die ersten Erfahrungen mit dem Virus und der durch ihn ausgelösten Krankheit werden im Januar, Februar und März 2020 gemacht. Es werden Statistiken aufgestellt, und die Forschung erhält im März umstandslos Millionenbeträge, um das Virus in den Griff zu bekommen. Das ist die Phase, in der die Staaten unterschiedliche Maßnahmen beschließen. Die Unterschiede beruhen teils auch darauf, dass die Entscheidungen der Politiker*innen sich an den Ratschlägen der national ausgesuchten Chef-Wissenschaftler*innen im jeweiligen Land orientieren. Diese versuchen in einem Gebiet, das noch nicht wissenschaftlich bewältigt ist, so gut es geht mit ersten gewonnenen Wissensbruchstücken und Analogie-Schlüssen, deren Prämissen aus bekannten anderen Viren-Pandemien stammen, Ratschläge zu entwickeln.

Mit der Strategie einer schnellen Herdenimmunität gibt es z.B. Länder, die zeitweise ein „Laufen lassen“-Konzept verfolgen (Schweden, Niederlande, Brasilien). Diese Programme werden im Text nicht mehr extra behandelt. Im Folgenden geht es um die Erklärung derjenigen Staaten, die mit einem neuen politischen Programm für ihre Gesellschaften, die Pandemie so gut es geht unter Kontrolle zu bringen:

Der Stand im März 2020 ist:

- Ein Impfstoff kann ein Jahr oder länger auf sich warten lassen

- Es werden Hochrisikogruppen ausgemacht – ältere Menschen, Menschen mit bestimmten Vorerkrankungen

- Man ist schon ansteckend, bevor sich erste äußerliche Symptome zeigen

- Es gibt Krankheitsverläufe, bei denen keine oder kaum Symptome auftauchen und man ist trotzdem ansteckend

- Kein Gesundheitssystem der verschiedenen Länder ist dafür ausgerüstet, eine einfache Verbreitung (also ohne Versuche, die Ansteckungsrate zu drücken) auszuhalten, ohne eine Auslese zu treffen, wen man dann ans Beatmungsgerät hängt oder wen nicht (Triage)4

Mittlerweile wollen die meisten Staaten a) den als unvermeidlich angenommenen Ansteckungsprozess in der Bevölkerung in die Länge ziehen, um eine Überlastung des Gesundheitswesen zu mindern, b) bei Hochrisikogruppen einen Ansteckungsprozess bis zur Herstellung des Impfstoffes möglichst vermeiden, c) die Behandlungskapazitäten ausbauen (oder für Corona-Patienten reservieren).

 Dafür werden unterschiedliche Mittel ausprobiert, die in unterschiedlichen Graden und mit unterschiedlicher Umsetzung in den diversen Ländern angewendet werden:

Maßnahmen, die jeden Menschen als potentiellen Krankheitsüberträger und zugleich als potentiell Gefährdeten für eine Ansteckung betrachten:

- Propagierung von Hygienemaßnahmen (gründliches Händewaschen und nicht ins Gesicht fassen)

- Generelle Reduzierung von Kontakten und Mobilität (keine Großveranstaltungen, nach Möglichkeit Home-Office, Reisebeschränkungen, Ausgehbeschränkungen bis hin zu Ausgehverboten, Schließung von Geschäften und teils von Fabriken)

- Tragen von Masken in der Öffentlichkeit

Maßnahmen, die versuchen, die potentiellen Krankheitsüberträger von den Anderen zu trennen:

- Quarantäne für positiv getestete Personen

- Quarantäne für Menschen, die aus Risikogebieten zurückkehren oder Kontakt hatten mit einer positiv getesteten Person

- Massentests, um die Quarantänemaßnahmen umfangreich, aber gezielt zu gestalten, insbesondere darauf eingehen, dass ansteckende Personen keine äußerlichen Symptome haben müssen

- Systeme des sozialen Trackings über Handy-Apps, um Kontaktpersonen von Infizierten im Nachhinein ausfindig zu machen (im asiatischen Raum ein verbreitetes Verfahren, in Deutschland gerade im Entwicklungsstadium – Stand 14. April 2020)

Maßnahmen, die gefährdete Hoch-Risikogruppen von anderen Gruppen unterscheiden:

- Menschen mit Vorerkrankungen und hohem Alter sollen sich selbst isolieren

- Besuchseinschränkungen bis -Verbot in Krankenhäusern, Pflege- und Altenheimen

Maßnahmen, die die Behandlungskapazitäten erweitern sollen:

- Aufbau neuer Behandlungskapazitäten durch: Bau neuer Intensivplätze, Aufbau gesonderter Klinikabteilungen für Corona-Patient*innen, Lockerung von Arbeitszeitregelungen für das Krankenhauspersonal

- Verschiebung von nicht notwendigen Operationen aus anderen Krankheitsgründen und damit Freisetzung der vorhanden Behandlungskapazitäten für Corona-Patient*innen

- Rekrutierung von Medizinstudierenden, Ärzt*innen in Ruhestand und medizinisches Personal aus anderen Branchen

- Beschaffung von zusätzlichen medizinischen Geräten und Schutzkleidung, die für die Behandlung von Corona-Patient*innen relevant sind

Neben diesen Maßnahmen werden Leitlinien für die Ärzt*innen entwickelt, wenn sie Triage-Entscheidungen treffen müssen (also im Fall Covid-19 die Vorsortierung, wer eine nicht ausreichend verfügbare Behandlung erhält und wer nicht, was für die letzteren ein Todesurteil bedeuten kann).

Part 2: In der Gesellschaft herrschen neue Prioritäten – erzwungen durch den Staat

Der demokratische Normalzustand

In den kapitalistischen Gesellschaften verordnet der Staat die Freiheit und damit das Privateigentum als Prinzipien einer Gesellschaft, die von ihm abgetrennt ein Eigenleben führen soll. Die Bürger*innen haben das Recht und die Pflicht den privaten Nutzen zum Leitfaden ihres materiellen Lebens zu machen, d.h. mit dem Stück gesellschaftlichem Reichtum, der ihnen exklusiv gehört, in Konkurrenz gegeneinander und auf Basis von Verträgen (die immer die Zustimmung des Gegenübers verlangen) ihr Zurecht- und Vorankommen zu versuchen. So vollzieht sich in der Gesellschaft eine erzwungene ,Kooperation‘ - wenn man es so nennen will.

In normalen Zeiten ergänzt der Staat dieses gesellschaftliche Treiben mit Zutaten, wenn er die Einschätzung hat, dass die privaten Anstrengungen allgemeine Grundlagen des Konkurrierens nicht zu Stande bringen:

So zwingt er die Arbeiterklasse in Form von Sozialkassen mit Zwangsbeiträgen zur solidarischen Vorsorge. So macht er die Figur eines ökonomischen Subjektes, das über kein Eigentum verfügt, außer die körperliche Kraft selbst, mitten in einer Gesellschaft, wo es nur um das Eigentum und seine Vermehrung geht, dauerhaft überlebensfähig: Da der Lohn (also das Lebensmittel der Arbeiter*innen) für die Unternehmen eine einzusparende Kost ist, die Arbeitsleistung wiederum ausgiebig genutzt wird, muss der Staat die Kapitalist*innen auf Arbeitsschutz- und Kündigungsschutzgesetze verpflichten -, damit die Arbeiterklasse nicht völlig ruiniert wird, durch die Arbeitsschäden und Entlassungen, die ständig stattfinden. Anders ausgedrückt: Eigentumsvermehrung der Unternehmen klappt besonders gut, wenn Lohnarbeiter*innen richtig hart ranklotzen , was körperlichen (und psychischen) Verschleiß beinhaltet. Der Staat stellt mit seinem Sozialsystem deshalb sicher, dass die Arbeiter*innen dauerhaft genau für die Reichtumsvermehrung der Unternehmen zur Verfügung stehen. Aber auch für die Kapitalist*innen stellt der Staat einige Leistungen hin, damit die Eigentumsvermehrung als Beruf klappt: Forschung, Verkehrsinfrastruktur, Kommunikation etc. Wenn es geht, ist der Staat offen dafür, Teilbereiche davon privaten Unternehmen – meist eingebettet in Sondergesetzen - zu überlassen.

Wenn die private Geldvermehrung funktioniert, von der der Staat dann Gelder für sich abzwackt, um mit der damit finanzierten Staatstätigkeit wiederum der privaten Geldvermehrung zu dienen, dann nimmt er den Standpunkt der Förderung des Wirtschaftswachstums insgesamt ein. In dieser summierenden Abstraktion ist unterstellt, dass die grundlegenden Bedingungen der Konkurrenz klappen. Er rechnet Jahr für Jahr die Erfolge und Misserfolge seiner Bürger*innen zusammen und trachtet danach die Bilanz zu verbessern. Das macht er, indem er die schon erfolgreichen Unternehmen mit Hilfe von Gesetzen und gezielten Subventionen noch erfolgreicher macht. Dann muss an Sozialstaatsmaßnahmen gespart werden, wenn sie den Leistungsträger*innen der Gesellschaft, also den Unternehmen, zu viel kostet. Mit Blick auf eine Verbesserung der summierenden Abstraktion des BSP oder BIP eröffnet und ermuntert er seine Bürger*innen (bzw. Unternehmen) die Welt in Beschlag zu nehmen: Als Absatzmarkt, als Einkaufsmarkt für billige Vorprodukte, als Standort für konkurrenzfähige Fabriken und Fachkräfte.

 

Der Ausnahmezustand

Dieses gesellschaftliche Leben, das der Staat mit seinem umfangreichen Gesetzeswerk initiiert und betreut, wird derzeit vom Staat dem Standpunkt des Umgangs mit einer „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ untergeordnet. Alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens sind – wie eingangs schon umschrieben - von dieser Subsumtion betroffen. Dabei kann man schon merken, dass der Staat in der neuen Prioritätensetzung in vielen Fällen einen nationalen Selbstversorgungsstandpunkt einnimmt, wenn er sich auf die globalen Lieferketten von gestern nicht verlassen und Ausländer*innen gleich nicht einreisen lassen will (mehr dazu in Part 3 dieses Textes). In den politischen Entscheidungen gilt jetzt folgender Blickwinkel:

Erstens wird jede Sphäre des gesellschaftlichen Lebens in Hinsicht auf ihre Bedeutung für den Kampf um die Volksgesundheit neu besprochen und mit neuen Gesetzen und Verordnungen auf das neue Programm verpflichtet.

Dabei bekommen manche Sphären direkt ein Mehr an staatlicher Unterstützung und gewährter Freiheit, weil sie in medizinischer Hinsicht jetzt vor allem gebraucht werden: Bestimmte Forschungsinstitute bekommen umstandslos mehr Geld vom Staat. Krankenhäuser werden besser ausgestattet. Arbeitsrechtliche Regeln in den Krankenhäusern werden gelockert, damit diese ihre Angestellten rechtlich abgesichert länger mit weniger Pausen arbeiten lassen können. Vorschriften zur Entwicklung, Erprobung und Zulassung von Arzneimittel werden gelockert.

Viele Sphären werden stark eingeschränkt, um Ansteckungsketten zu unterbrechen: Massenveranstaltungen dürfen nicht stattfinden, Schulen, Kindergärten, Sportstätten werden geschlossen. Viele Geschäfte werden geschlossen. Besuche in in Pflegeheimen und Krankenhäuser werden verboten. Demonstrationen werden untersagt (oder nur unter sehr strengen Auflagen erlaubt). Für den Gang aus dem Haus in die Öffentlichkeit gibt es Restriktionen. Ausländer*innen wird die Einreise verboten oder nur unter starken Restriktionen gestattet.

Diese Maßnahmen haben ökonomische und andere soziale Nebenwirkungen, die im zweiten Blickwinkel der neuen politischen Prioritätensetzung mitbedacht werden:

Zweitens sollen die vorhandenen gesellschaftlichen Sphären im Ausnahmezustand als Mittel für die Bewältigung des Ausnahmezustands tauglich bleiben. Auch Menschen, die jetzt überwiegend zu Hause bleiben sollen, brauchen etwas zu essen und sind aus der Pflicht, sich dieses Essen als Privateigentümer*innen mittels Geld zu beschaffen, nicht entlassen. Galten in der Krise 2008ff. die Banken als systemrelevant, so gilt jetzt die Lebensmittelherstellung und „Verteilung“ als elementar. Zusätzlich zu den Supermarkt-Kassierer*innen sind auch die für den Transport verantwortlichen Trucker*innen plötzlich systemrelevant. Der Markt soll weiterhin die „Versorgung“ mit Lebensmitteln sicherstellen. Dafür braucht man in dieser Gesellschaft Geld, und der Staat gibt den Bürger*innen Lohnersatzleistungen, Hilfe in der Selbstständigkeit usw. Dass die Lohnabhängigen nur dann vom Unternehmen Geld kriegen, wenn sie für deren Kosten-Gewinn-Rechung taugen, bleibt im Ausnahmezustand gültig. Die grundlegenden Abhängigkeitsverhältnisse der Marktwirtschaft sollen erhalten werden. Damit die Leute bei ausfallendem oder gemindertem Einkommen zu Hause bleiben können, greift der Staat in das Mietrecht ein und verbietet Kündigen wegen Zahlungsausfällen (die natürlich nachgezahlt werden sollen). Damit die Leute nicht irre werden in ihrer Isolation, gestatten einige Bundesländer zwischenzeitlich die Wiedereröffnung von Baumärkten, dann können die Leute wenigstens Haus und Hof in Schuss bringen und haben Beschäftigung. Insbesondere am Ringen um die Einreiseerlaubnis für Saisonarbeitskräfte für die Landwirtschaft in Deutschland wird deutlich, wie der Staat hier zunächst Restriktionen durchgesetzt hat, um sie dann entlang des Gesichtspunktes der nationalen Ernährungssicherheit wieder zu lockern.5

Überhaupt soll die kapitalistische Produktion, der Handel und das Fianzwesen insgesamt weitergehen. Aber um hier einem Missverständnis vorzubeugen: Dass trotz allgemeiner Ausgehverbote viele Arbeiter*innen weiter zur Arbeit müssen, ist nicht einfach Ausdruck davon, dass der Staat doch das Ziel eines wachsenden BIP über die Bekämpfung der Pandemie stellt; oder davon, dass der Staat doch in einer Güterabwägung entscheidet, hier ein wenig Wirtschaftswachstum auf Kosten der Pandemie-Bekämpfung hinzubekommen. Es geht dem Staat in der derzeitigen Situation nicht um das Wachstum insgesamt, sondern darum, dass die Marktwirtschaft die Mittel (stofflich, wie geldmäßig) liefert für den Ausnahmezustand.6 Die Produktion muss überhaupt irgendwie weiter laufen, denn letztlich schafft doch die Arbeit die materiellen Grundlagen für alles andere – eben auch für die Mittel, die zur Bekämpfung der Pandemie nötig sind. Wenn es hart auf hart kommt, haben Staaten aber auch schon Fabrikschließungen beschlossen (Italien). In Deutschland nimmt der Staat es in Kauf, dass z.B. das VW-Werk in Wolfsburg, das überwiegend für den inländischen Markt produziert, 20.000 Arbeiter*innen nach Hause schickt, und zwar nicht nur wegen der gestörten Lieferketten. Schlicht die verordnete Schließung von Geschäften betrifft auch die Autohändler*innen, und da man Autos schlecht im Internet verkaufen kann, muss man sagen, dass der Staat indirekt die Produktion seiner Schlüsselindustrie lahm legt bzw. große wirtschaftliche Schäden in dieser Schlüsselindustrie, für die er sonst so vieles tut, weil sie ihm wichtig ist, hinnimmt. Das sollte die Prioritätensetzung einigermaßen gut veranschaulichen.

Drittens wird in Hinblick auf die angestrebte Rückkehr ins normale Leben gefragt: Überleben die Sphären einigermaßen so, dass das Staatsprogramm Kapitalismus hinterher wieder wie gewohnt fortgeführt werden kann? Die Staatshilfen fallen hier überwiegend mit dem Gesichtspunkt „Zweitens“ zusammen, wenn die Überlebenshilfen für den Kampf in der Pandemie zugleich die Basis sind, dass die Sphären auch nach der Pandemie weitermachen können. Es gibt aber auch Sonderfälle: In dem Ausnahmezustand werden z.B. Airlines kaum gebraucht und man kann auf ihre Leistungen derzeit verzichten (Ausnahmen betreffen prinzipielle Staatsbürgerangelegenheiten, also Abschiebungen, die der deutsche Staat nach wie vor für notwendig hält, und Rückholung deutscher Staatsbürger in der Pandemie).7 Nach der Krise will der Staat aber wieder Airlines für den kapitalistischen Normalbetrieb haben, und so gibt es hier aus diesem Grund Überbrückungshilfen. Ein anderer Sonderfall sind die Aktienmärkte: Da das Pandemie-Programm diese auf Talfahrt schickt, sind die Aktien-Unternehmen billige Übernahmekandidaten. Hier kündigt der Staat vorerst die freie Weltwirtschaftsordnung auf und erlässt Gesetze, die ausländischen Investor*innen die Übernahme schwer machen sollen.

Viertens: Neben der Gesellschaft betrachtet der Staat seine eigenen Abteilungen unter den drei Gesichtspunkten. Vor allem aber ist der Staat bemüht, seine Abteilungen auf die Durchsetzung des veränderten gesellschaftlichen Lebens gegen die Privatsubjekte zu trimmen. Im deutschen Grundgesetz steht hinter jedem Menschenrecht in Varianten der Satz „In dieses Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden“ (z.B. Artikel 2,2). Mit dem Infektionsschutzgesetz zeigt der Staat eindrucksvoll, wie das gemeint ist. Die Exekutive bekommt erheblich neue Befugnisse. Die damit gemachten Entscheidungen müssen dann die Polizist*innen und die Gerichte durchsetzen. Darüber hinaus werden lauter neue Verfahren erfunden, die die Kontinuität des Staatshandelns auch dann erlauben, sollten sich Bundestagsabgeordnete wegen einer Corona-Infizierung nicht mehr in der Lage sehen, ihren Dienst zu machen.

Manche Eigentümlichkeiten ergeben sich bei dieser Neueinrichtung der Staatsgewalt:

So haben manche Bundesländer beschlossen, dass frisch zum Freiheitsentzug verurteilte Personen, ihren Knastaufenthalt verschieben sollen. Manche Inhaftierte werden aus dem Gefängnis entlassen, sie sollen ihre Strafe später weiter aussitzen. So will der Staat die für große Infektionsausbrüche überaus fruchtbare Enge in Knästen entschärfen und so die Pandemie weiter aufhalten, aber auch Platz machen für die Schaffung von Quarantäneplätzen in einem sonst üblichen engen Raum.8

Leute machen Bekanntschaft mit Polizist*innen, die Bußgelder verteilen, weil man alleine auf einer Bank ein Buch gelesen hat. Demos, deren Organisator*innen auf eine geringe Teilnehmermenge bei deutlichen Abstandsregelungen achten, werden von der Polizei nach Buchstaben der neuen Verordnungen abgeräumt. Dass dies dann ohne Abstandsregeln passiert, empört manchen Zeitgenossen, der übersieht, dass im Ausnahmezustand, den der Staat gebietet, mehr denn je gilt: Recht und Ordnung muss sein.

Part 3: Jetzt auch Germany first

Die Gesellschaft im Innern, wie sie vom Staat mit Gesetzen vor der Pandemie hergerichtet wurde, passt nicht umstandslos zu dem neuen Ausnahmezustandsprogramm, das der Staat durchziehen will. Er muss hier mit Gesetzen und Verordnungen einiges korrigieren, verlässt sich also nicht einfach darauf, dass die bisherigen Regeln auch jetzt wunderbare Ergebnisse hervorbringen. Der grundrechtlich geschützte private Eigennutz soll weiterhin gelten, muss aber neu abgerichtet werden. Dafür benutzt der Staat seine Gewalt, z.B. wenn er viele Verkaufsstätten schließen lässt, Menschenansammlungen polizeilich auseinander treibt und die Leute mit Bußgeldern oder Strafen belegt. Darum ging es in Part 2.

Nach außen hin aber passt die globale „Gesellschaft“, also die zwischenstaatlichen Regeln, auch nicht mehr umstandslos zum neuen politischen Programm. Der Staat kann die globalisierte Welt nicht auf die Schnelle mit Gewalt neu ausrichten. Schon die Herstellung des globalen Weltmarkts mit einigermaßen verlässlichen Regeln für die Unternehmen und Staaten war ein langwieriges Projekt der NATO-Staaten. Mit Drohung von überlegener Waffengewalt, wirtschaftspolitischer Erpressung und darauf aufbauend aber auch Angeboten an andere Staaten, hat sich die moderne Weltordnung erst nach und nach herausgebildet. Eine Welt von Staaten, die sich in Konkurrenz gegeneinander, in Angewiesenheit aufeinander und dann auch in Kooperation miteinander, um ihr gegensätzliches nationales Wirtschaftswachstum kümmern.

Vor der Corona-Krise hat Donald Trump mit seinem America First-Programm deutlich gemacht, dass internationale Regeln nur so verlässlich sind, wie sich die überlegene Staatsgewalt der USA hinter sie stellt (oder jetzt eben nicht mehr). Er hält von den bisherigen Handelsregeln nichts, weil er den Eindruck hat, dass sie nur China und Deutschland stark machen anstatt die USA.9

Vor diesem Hintergrund setzen alle Staaten im Pandemie-Ausnahmezustand neue Prioritäten für ihre Gesellschaften, die durch die vorherige Politik in die weltweiten Lieferketten und Migrationsbewegungen eingebunden wurden. Die globalisierte Welt genauso für die eigenen Notstands-Bedürfnisse herzurichten, wie die innere Gesellschaft, wäre ein langwieriges Geschäft, auf das die Staaten nicht setzen wollen.10 Einerseits mögen also international abgestimmte Strategien in der Bekämpfung der Corona-Pandemie helfen und hilfreicher sein als lauter nationalstaatliche Sonderwege. Andererseits gilt wegen der Konkurrenz der Staaten im Ausnahmezustand aber zunächst Germany, China, America usw. first.

Der Staat hat die Macht die Gesellschaft umzukrempeln, aber eben nur soweit bis die Macht der anderen Staaten an seinen Grenzen anfängt:

Die Grenzen werden weitgehend dicht gemacht für Ausländer*innen. Die Flüchtlinge in den Lagern Griechenlands waren Anfang März noch Gegenstand von ekligen politischen Auseinandersetzungen, seit Mitte März nicht einmal mehr das. Die Unterbindung von vielen Reisen mag ja unter dem Gesichtspunkt „Ansteckungspotentiale mindern“ sinnvoll erscheinen, warum dies entlang von nationalen Grenzen geschieht, ist naturwissenschaftlich-sachlich überhaupt nicht begründbar.

Diese Ausgrenzung des Ausländischen wird begleitet vom prinzipiellen Anspruch des Staates auf sein Volk. Er scheut (zumindest in Deutschland) keine Kosten, um die Urlauber aus aller Welt einzusammeln und zurückzubringen. Die nationalen Behandlungskapazitäten werden überwiegend für das eigene Volk reserviert. Nur zaghaft geht der Staat mit der Bereitstellung von Behandlungsplätzen für das überlastete Ausland um – man hört Mitte April von mehr als 10.000 freien Intensivbetten, bei gerade mal 200 behandelten Patient*innen aus dem europäischen Ausland, für die man sich aber auf die Schulter klopft weil Freunde helfen ja einander...

Der erweiterte Bedarf nach medizinischen Gütern für die eigene Nation wird einerseits über die Geldmacht abgewickelt – in Konkurrenz zu anderen Staaten. Zugleich wird der direkte Zugriff auf die Unternehmen zu Hause oder in der Welt vollzogen (z.B. wenn die Unternehmen zwar im Ausland stehen, rechtlich aber über den Besitz durch eine Staatsbürger*in oder einer eigenen rechtlichen Institution dem Staat zugeordnet sind. Allerdings enthalten die Prinzipien „gehört meiner Staatsbürger*in“ und „die Fabrik steht auf meinem Boden“ zwischen den Staaten Konfliktpotential).11

Jeder Staat mobilisiert jetzt Geld in Form von Staatsverschuldung, um die gesellschaftlichen Sphären, die ganz besonders gebraucht werden, zu unterstützen - aber auch diejenigen, die Belastungen erfahren – alles national.

Die Landwirtschaft, die Produktion von medizinischem Gerät und die Herstellung von Medikamenten, also die allernotwendigsten Grundlagen für den Erhalt von Menschen und daher für das Staatsvolk, werden jetzt erst recht bzw. nicht mehr nur als Wirtschaftssphären betrachtet, mit denen man am Ausland auch noch Geld verdienen kann (und soll), sondern als Sphären, die eine nationale Selbstversorgung materiell sicherstellen sollen. Materiell von besonders großer nationaler Wichtigkeit wird die Sicherstellung der Impfstoffproduktion und der Zugriff auf diesen sein. Denn der noch zu findende Impfstoff wird als der Schlüssel nicht zum Krisenhandling, sondern zur Beendigung des Drangsals betrachtet.

Reihum diskutieren und beschließen die Staaten neue Gesetze, die es Ausländer*innen und ausländischen Unternehmen erschweren, sich in Zeiten fallender Börsenkurse „eigene“ Unternehmen zu kaufen.12

So vermag selbst manche AfD-Wähler*in zur CDU zurückkehren, weil ihr anschaulich wird, dass der exklusive deutsche Standpunkt doch noch bei den etablierten Parteien vorhanden ist.13

Part 4: Der Staat und sein Volk

Zumindest in Deutschland (aber wohl auch in anderen Ländern wie China oder Frankreich) können sich die amtierenden Staatsoberhäupter und deren Regierungsparteien großer Beliebtheit in Wahlumfragen erfreuen. Es gibt zwar auch Kritiken, die sich bislang aber eher am Rande abspielen (Stand 15.04.2020). Nach der drohenden Spaltung der Nation in ein rechtes und ein demokratisches Lager (Stichwort AfD) zeigt sich zumindest die deutsche Nation derzeit noch überwiegend geschlossen.

Manchen Linken ist das zurecht unheimlich und es soll hier der Versuch unternommen werden aufzuzeigen, wie dieses Einverständnis von Unten mit dem Oben zu Stande kommt und wie man das kritisieren sollte.

An sich wäre aktuell nichts gegen ein gesellschaftliches Programm einzuwenden, bei dem Menschen ihre Kontakte reduzieren, Abstand halten und sich gründlicher die Hände waschen, während die Naturwissenschaft und Medizin versucht so gut es geht einen Impfstoff zu finden oder Medikamente, die den Krankheitsverlauf abmildern. Zumindest wenn man kein Interesse daran hat, schwer zu erkranken, Opfer einer Triage zu werden oder wenn man weiß, dass man selber zu einer Risiko-Gruppe gehört, die auch bei guter, wenngleich im Zweifelsfall hochstrapaziöser invasiver medizinischer Behandlung ein hohes Sterbe-Risiko hat.

Die erste Basis des Einverständnisses von Unten mit dem Oben, wie es im April der Fall ist, ist damit benannt: Es gibt gute Gründe, sich zu wünschen, dass eine kollektive Verhaltensveränderung in Sachen Kontaktminimierung, Distanz- und Hygieneregeln usw. kommen mag und sich erhält, bis Medikamente oder Impfungen da sind.

Dieses Programm wird durch den Staat veranlasst, geplant und durchgesetzt – und ist somit Bestandteil seiner umfassenderen Kalkulationen: Naturwissenschaftliche Beherrschung der Volksgesundheit, damit er, der Staat, die Bevölkerung als Ressource für seine Macht nach Innen und Außen auf Basis von fundierten Grenzwertrechnungen benutzen kann. Der jetzige Ausnahmezustand mag daher im Ergebnis nicht wenige junge und erst recht ältere Menschen davor retten, an Covid-19 zu sterben. Das heißt aber umgekehrt überhaupt nicht, dass jetzt alles in der Gesellschaft einfach nur deswegen passieren würde, damit all diese Menschen nicht sterben. An dem Ausnahme-Programm des Staates ist – wie im Text geschehen - einiges zu kritisieren, und es erklärt einem dann auch die eine oder andere Ekligkeit in der Bekämpfung der Corona-Pandemie, die im Laufe des Textes bereits angesprochen worden ist. Da die meisten Menschen aber auch vor der Pandemie keine Kritiker*innen des Staatsprogramms waren, fällt das für sie erstmal nicht ins Gewicht.

Die zweite Basis für die Zustimmung der Leute zum Staatshandeln liegt in dieser Gesellschaft und wie sie geht und steht: In der kapitalistischen Gesellschaft gibt es außer dem Staat objektiv keinen Akteur, der in der Lage wäre, eine kollektive Verhaltensänderung einfach durchzusetzen. Die Menschen laufen als Privatsubjekte herum, dürfen und müssen selber zusehen, wie sie Erfolg haben oder eben nur über die Runden kommen. Ihr materielles Leben müssen sie über den privaten Nutzen abwickeln, also zusehen, wie sie sich mit dem, was ihnen exklusiv zusteht und von dem die anderen ausgeschlossen sind, gegen andere durchsetzen (Konkurrenz). Vom Privatreichtum der Anderen ist natürlich jeder selber ebenso ausgeschlossen. Ein abgestimmtes kollektives Verhalten nach dem Motto „jetzt tritt jeder mal ein wenig zurück, da hat doch jeder was von“ und „lass uns die Ressourcen zusammenwerfen, damit die Fachleute in Ruhe forschen können“, ist in der Konkurrenzgesellschaft einfach nicht drin.

Nur durch die überlegende staatliche Gewalt werden die Massen zu einem veränderten Lebensstil und der phasenweisen praktischen Einschränkung des privaten Interesses gebracht. Vermieter dürfen ihre Mieter nicht kündigen, Kneipenbesitzer ihre Kneipe nicht oder nur eingeschränkt betreiben usw. So erscheint der Staat oder die Exekutive als der Vertreter des allgemeinen Interesses, als bringe er das Gute, das sachlich Angemessene oder Vernünftige in die Gesellschaft.

Der Fehler liegt darin, glatt zu übersehen, dass es der Staat selber ist, der eine Gesellschaft von lauter Egoisten hinstellt, auf die man sich nicht verlassen kann. Das macht er ganz prinzipiell mit der Freiheit, der Gleichheit und dem Privateigentum, die er in die Welt und durchsetzt.

Um ein Missverständnis vorzubeugen: Privater Nutzen und Egoismus sind Formen der Interessenverfolgung, bei der man immer nur zum Zuge kommt, wenn man darauf achtet, dass der Andere nicht zum Zuge kommt. Das ist in einer Welt von Privateigentümer*innen systematisch der Fall – gesetzlich erzwungen. Aber: Individuelle Interessensverfolgung ist nicht einfach das Gleiche wie privater Nutzen oder Egoismus. Wenn ich z.B. gut leben will, dann kann es ja sinnvoll sein, sich mit anderen kooperativ abzusprechen. Die Anderen mögen das dann machen, weil sie – wie ich – den Eindruck haben, dass sich das für sie lohnt. Eine gemeinschaftliche Praxis kann sehr wohl aus einem Eigeninteresse zu Stande kommen, ohne die ständige Erinnerung an 'hohe Werte' wie Solidarität oder Mitmenschlichkeit. Menschen, die in einer Notlage sind, kann man auch einfach so helfen, ohne einen Schweinehund dafür überwinden zu müssen oder ohne sich moralisch auf die Schulter zu klopfen, was für ein guter (Ausnahme-)Mensch man sei.

In dieser Konkurrenzgesellschaft bekommt die Hilfe für Andere manchmal einen Ehrenplatz, weil sie eben überhaupt nicht selbstverständlich ist. Zugleich bekommt die Hilfe in dieser Gesellschaft das Prädikat „altruistischer Idiot!“, weil man nicht gecheckt hat, worauf es für den Erfolg ankommt.

Die Zustimmung zum Staatshandeln, die sich bislang breit macht, resultiert aus einer um die Besonderheiten der Corona-Pandemie angereicherte Denkweise, die noch jeder im Sozialkundeunterricht oder sonstwo gelernt hat: Stell dir vor, es gäbe keinen Staat! Da wüsste noch jeder, wie die Leute übereinander herfallen würden. Heraus kommt: Ein Glück gibt es den Staat! Das blöde an dem Gedanken ist, dass die vermeintlichen Wölfe, die der Staat bändigen würde, nichts anderes sind als dessen Kreaturen in der von ihm in Gang gesetzten Konkurrenzgesellschaft.

Jetzt fällt den Leuten derselbe Gedanke entlang der Pandemie ein: „Stell dir vor, der Staat würde keine Kontaktverbote verordnen und die Forschung nicht umfangreich ausstatten.“ Tja.

Und mit diesen Gedanken der Bürger*innen kommt dann das seltsame Resultat heraus: Von sich aus würden sie als Privatpersonen nie und nimmer die Ansteckungsraten runter schrauben können. Aber wenn der Staat das befiehlt, dann sehen das sehr viele plötzlich ein und machen dann freiwillig mit, ohne dass die Polizei hinter jeder Bürger*in aufpassen müsste. Dafür bekommt die Bevölkerung von den Führer*innen der Nation viel Lob: „Die Brandenburger Landesregierung ist mit dem Verhalten der Bürger in der Corona-Krise zufrieden. Die allermeisten Bürger hätten sich vorbildlich an die Regeln gehalten sagte Ministerpräsident Woidke am Sonntagabend.“14

Manche Begeisterung für mehr staatliche Gewalt zur Bekämpfung der Egoist*innen hält der Staat dann aber auch für übertrieben. Die Bürger*innen denunzieren sich zu oft wechselseitig bei der Polizei für unbotmäßiges Verhalten und dieses neue Pflichtbewusstsein in der Bevölkerung hat auch hinderliche Seiten für seinen Urheber: „Die Polizei verzeichnet derzeit viele Verstöße gegen die Corona-Regelungen, die von Privatleuten angezeigt würden. Auf allen Kanälen würden dazu Hinweise eingehen, also per Mail, über die sozialen Netzwerke, sowie per Anruf. Die Menschen würden etwa geöffnete Restaurants oder größere Menschenansammlungen in Parks melden. Die genaue Zahl solcher Anzeigen bezifferte die Polizei nicht. Die Behörde warnt am Donnerstag vor Aktionismus. (…) Brandenburger Polizei appelliert: Bitte den Notruf nicht blockieren mit Corona-Anzeigen!“15

 

1Das Infektionsschutzgesetz (IfSG) wurde mit dem „Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ vom 27.03.2020 überarbeitet. https://www.gesetze-im-internet.de/ifsg/IfSG.pdf; eingesehen am 14.04.2020.

2IfSG, §4, 1(a): „Das Bundesministerium für Gesundheit legt dem Deutschen Bundestag nach Beteiligung des Bundesrates bis spätestens zum 31. März 2021 einen Bericht zu den Erkenntnissen aus der durch das neuartige Coronavirus SARS-CoV-2 verursachten Epidemie vor.“ (Hervorhebung durch Autor).

3Unklar war zunächst, wie tödlich das Virus ist. Mit vielen Unsicherheiten konnten dann nach einiger Erfahrung absolute Todesfälle modelliert werden. Die Wege und Wahrscheinlichkeiten der Ansteckung waren zunächst ebenfalls unklar. Hier bringt die Wissenschaft jetzt nach und nach mehr Wissensbruchstücke zusammen.

Unterhalb dessen fehlt es auch an ganz grundsätzlichem Wissen über die biologisch-medizinischen Grundlagen: Wer erkrankt aufgrund welcher biologischer Mechanismen schwer, welche Organe werden neben der Lunge wieso angegriffen (Blutgefäße, Niere, Leber, Nervensystem?), woran sterben die Leute letztlich eigentlich? Auch ist derzeit auch unklar, was die mittel- und langfristien gesundheitlichen Folgen der Erkrankung sind: Fallbeschreibungen von Lungenärzten über stark geschädigtes Lungengewebe auch bei milden Fällen, deren Regenerationswahrscheinlichkeiten unbekannt sind, sowie Fragen nach Spätfolgen auch für andere Organgruppen wie das Herz-Kreislaufsystem o.ä. tauchen immer wieder auf.

Bei den sog. seltenen Erkrankungen, die sehr oft schlecht biologisch-medizinisch durchdrungen sind, ist eine solche Unkenntnis dem Staat id.R. praktisch recht egal - aber sicher nicht bei einer Krankheit, die sich quer durch die Bevölkerung ausbreitet - da ist es das Gegenteil von berechen- und beherrschbar.

4Dass die zuvor betriebene Gesundheitspolitik eine wichtige Bedingung für den Verlauf der Pandemie und die jetzt beschlossenen Ausnahmemaßnahmen ist, stimmt. Dass die Staaten und ihre Gesundheitswesen hier aufgrund der vorherigen Sozialstaats- und Wirtschaftspolitik knapp kalkuliert haben, stimmt auch. Manchen Staaten wurde im Zuge der Eurokrisen-Stabilitätsmaßnahmen regelrecht eine Sparpolitik im Gesundheitswesen aufgenötigt, so dass höhere Sterbezahlen jetzt auftreten (Italien, Spanien). Das soll in diesem Text nicht erklärt werden. Die Kritik des herkömmlichen sozialstaatlichen Gesundheitswesens ist notwendig, wird hier aber nicht gemacht – sondern in einem anderen Text, der gerade geschrieben wird.

6Ob und wie sich das in den Debatten, um die Rückkehr zur „Normalität“ ändert, ist in diesem Text nicht Thema.

7Siehe den Bericht „Abschieben – trotz Corona“ vom 03.04.2020 in der Tagesschau: https://www.tagesschau.de/investigativ/ndr/abschiebungen-corona-101.html; eingesehen am 15.04.2020.

10Versuchen tun sie es, wenn z.B. die sogenannte Süd-Schiene in der EU einen erneuten Anlauf für die Einführung von Euro-Bonds, also gemeinschaftlicher Staatsverschuldung machen. Nur müssen sie dann erstmal mit dem Widerstand der Nordschiene (hier prominent Deutschland und Niederlande) fertig werden, was vorerst nicht gelungen ist – also im Zweifelsfall dauert. (Stand 15.04.2020)

11Als Beispiel mag die Posse um die bestellten 200.000 Atemschutzmasken für die Berliner Polizei, die dann in den USA gelandet sind, dienen. Produziert wurden diese von dem US-Unternehmen „3M“ mit einem Standort in China. Der Zwischenhandel lief über konkurrierende Händler und dem Flughafen Bangkok.

Der Berliner Senat warf Trump einen modernen Akt der Piraterie vor, musste dann aber zurückrudern, weil die Masken schlicht wegen einem höher gezahlten Preis in den USA gelandet sind. Die USA fordert eine Entschuldigung vom Berliner Senat wegen der Vorwürfe, aber Trump lässt es sich nehmen gleich auch noch folgendes seinem Volk zu verkünden:

„US-Präsident Donald Trump kündigte am Freitagabend (Ortszeit) in Washington an, seine Regierung wolle den Export knapper medizinischer Schutzausrüstung wegen der Ausbreitung des Coronavirus verbieten. Verhindert werden solle etwa der Export von Atemschutzmasken, von Operationshandschuhen und anderen Produkten. Zudem soll 3M Bestellungen der US-Behörden für Schutzmasken, die in China hergestellt werden, mit Priorität bearbeiten.“ Der Tagesspiegel am 04.04.2020.

Also nicht direkt eine Beschlagnahmung, aber schon eine Inbeschlagnahmung, wer bevorzugt beliefert werden soll.

12In Deutschland fand am 23.04.2020 die erste Lesung für die Änderung des Außenwirtschaftsgesetzes statt. Abgesehen von der FDP sind sich alle Parteien in der Stoßrichtung einig. Eine Zusammenfassung der Standpunkt findet sich hier: https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2020/kw17-de-aussenwirtschaftsgesetz-691594; eingesehen am 29.04.2020.

13Zum rechten Standpunkt siehe die Broschüre „Von Schland nach Gauland“.

14Merkische Allgemeine am 22.03.2020: https://www.maz-online.de/Brandenburg/Regierung-lobt-Buerger-fuer-Verhalten-in-Krise; eingesehen am 15.04.2020.