23.02.2002 PDF

Wohlfahrts-Illusionen

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Gesammelte Texte zur Kritik an Sozialer Grundsicherung und linkem KeynesianismusInhalt:
A. Den Kapitalismus kritisieren statt schönreden!
B. Die Forderung nach Sozialer Grundsicherung - wie sie begründet wurde, was aus ihr geworden ist und was ihre heutigen Befürworter daraus nicht lernen wollen
C. "John Maynard war unser Steuermann..." - Mit Keynes fürs Kapital? Oder mit Marx dagegen?



A. Den Kapitalismus kritisieren statt schönreden!
I. Gibt's hier was zu verteilen?

Die Befürworter eines "Rechts auf bedarfsdeckende Grundsicherung für alle", einer Art aufgestockter Sozialhilfe ohne Schikanierung durch die Sozialbehörden, treten trotzig einer Behauptung entgegen, mit der Sozialpolitik heute legitimiert wird: Für mehr Sozialleistungen sei einfach kein Geld da. Die Gegenbehauptung der Grundsicherungs-Befürworter lautet: Doch, es ist sehr wohl da.
Wenn dies belegt werden soll, kommt schnell das aktuelle Wirtschaftswachstum ins Spiel. Was in der nationalökonomischen Bilanz als Wirtschaftswachstum zählt, berücksichtigt jedoch nicht, woher dieses Wachstum kommt. Es sind vor allem Privatunternehmen, die da Gewinn gemacht haben. In der nationalökonomischen Bilanz scheint das zunächst keine Rolle zu spielen: DM sind DM, ob damit einem Haufen armer Schlucker eine bessere Existenz gesichert wird, oder einem Haufen gutgehender Unternehmen ihre nächsten Investitionswelle. Erst auf Dauer stellt sich heraus, wozu das Geld, das in kapitalistisch produzierenden Gesellschaften herumzirkuliert, taugt. Es dient dem privaten Zugriff auf den abstrakten, d.h. in der Gesellschaft überhaupt vorhandenen Reichtum. So etwas ist nützlich in einer Gesellschaft, deren Reichtum überhaupt nur dadurch entsteht, daß darum konkurriert wird, wer sein Kapital besser verwertet als die anderen. Für diese Konkurrenz ist der wechselseitige Ausschluß vom gesellschaftlichen Reichtum - nichts anderes ist der private Zugriff auf diesen Reichtum, so wie er durch Geld und Privateigentum praktiziert wird - eine zwingend notwendige Voraussetzung. Dieser Ausschluß findet nicht nur zwischen den Kapitaleigentümern statt, sondern betrifft in besonderer Weise auch die Masse derjenigen, die nicht von Kapitaleigentum leben können. Auch sie bekommen zwar Geld - ihren Lohn, ihr Gehalt oder wie auch immer - aber dies ist kein Gewinn für sie. Sie bleiben durch die geringe Höhe des Lohns immer getrennt von dem Reichtum, durch den neuer Reichtum entsteht, von den Produktionsmitteln. Wäre dem nicht so, wäre also ihre Entlohnung gleich dem, was sie an neuem Reichtum hergestellt haben, hätte kein Privatunternehmen ein Interesse daran, ihnen Arbeit zu geben - unterstellt zumindest, dieses Privatunternehmen will eines bleiben.
Selbst einmal angenommen jedoch, ein Unternehmen würde sich komplett an seine Angestellten verschenken: Diese dürften sich dennoch auf Dauer nicht wesentlich mehr auszahlen als den in ihrer Branche üblichen Durchschnittslohn - ansonsten hätten sie in der marktwirtschaftlichen Konkurrenz verloren. Das wirft ein Schlaglicht darauf, daß der Reichtum kapitalistischer Gesellschaften ganz und gar bestimmt ist durch den einen Zweck der dauerhaften Vermehrung des Kapitals. Maschinen, Gebäude - all das mag noch so nützlich sein, noch so vielen Menschen Brot oder andere Annehmlichkeiten verschaffen können - es zählt einfach nichts mehr, wenn davon nicht auf die vorgeschriebene kapitalistische Weise Gebrauch gemacht wird. Gönnen sich die Genossenschaftler eines Kollektivbetriebs mehr als das, was Angestellte eines ganz gewöhnlichen Privatunternehmens bekämen, wird ihnen z.B. Geld fehlen, wenn es darum geht, in die nächste Generation effektiverer Maschinen zu investieren. Dann werden all die nützlichen Dinge, die sich mit den nunmehr "veralteten" Maschinen produzieren lassen, für den Markt zu teuer sein - und damit wäre das Urteil gefällt über diesen nützlichen, aber eben nicht mehr kapitalistisch nützlichen Reichtum.

II. Ist der Sozialstaat ein verhinderter Wohltäter?
Neben dem, was sich umverteilen läßt, muß es natürlich auch jemanden geben, der es umverteilen kann. Den Adressaten ihrer Forderung wählen die Befürworter einer sozialen Grundsicherung mit schlafwandlerischer Sicherheit: Der Sozialstaat kann und soll's bringen. Soviel ist daran wahr: Staaten üben die Gewalthoheit über ihre Bürger aus, seien es nun Besitzer oder Nichtbesitzer von Produktionsmitteln. Und moderne kapitalistische Staaten wenden diese Gewalthoheit so an, daß Lohnabhängige auch dann am Leben erhalten werden, wenn es sich gerade mal für niemanden lohnt, sie arbeiten zu lassen - eine Leistung, die für unsere Grundsicherungsfreunde sogleich die Frage aufwirft: Warum nicht mehr davon? Doch wie beim Gegenstand des vorangegangenen Abschnitts, der Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums, wird auch hier eine nähere inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Zweck der Sache ersetzt durch eine von vornherein bejahende Herangehensweise an diese Sache.
Von Steuern, d.h. einem Abzug von allen Reichtumsquellen eines staatlichen Herrschaftsbereichs, wird etwas finanziert, was mittelbar zur Kapitalvermehrung innerhalb eben dieses Herrschaftsbereichs beiträgt. Neben Bildung, Infrastruktur, Polizei, Rechtswesen et cetera gehört dazu auch der Unterhalt eines Arbeitlosenheeres. Man weiß, daß aufgrund der Entwicklung der Kapitalvermehrung in ihrem Verlauf regelmäßig Arbeitskräfte gebraucht und phasenweise auch wieder nicht gebraucht werden. Um die Arbeitskräfte zu erhalten richtet ein Staat wie die BRD, unter dem das Kapital erfolgreich funktioniert, ein Zwangssparen für Lohnabhängige ein: Sozial-, Arbeitslosen-, Rentenversicherung und dergleichen. Solche Aktivitäten sind keineswegs darauf gerichtet, den Bürgern materiell ein gutes Leben zu garantieren - was bereits daran zu erkennen ist, daß so etwas in manchen Ländern der Staatsgewalt von Arbeiterbewegungen erst abgetrotzt worden ist. Das Leben von einem Lohn - der bekanntlich schon schmal ist, wenn er überhaupt fließt - wird durch solche Einrichtungen zu einer dauerhaft möglichen Existenzweise, und richtet damit eine Existenzweise der lohnabhängigen Klasse ein, die zum langfristigen Bedarf des Kapitals paßt.
Neben dem Lohn als Masse der notwendigen Lebensmitteln zur Erhaltung der Arbeitskraft, die für eine profitable Produktion unentbehrlich ist, gibt es ein moralisches Element des Lohns, dessen Höhe von vorherrschenden politischen und sozialen Vorstellungen und Kräfteverhältnissen abhängt. Es tritt den Privatunternehmen als ein Abzug von ihrem Profit in Erscheinung, als Belastung. Ebenso der Staatsgewalt, die die Gesellschaft dem wirtschaftlichen Fortschritt gemäß einrichtet. Sie berücksichtigt zwar auch den sozialen Frieden, aber erkennt ebenso im Lohnniveau ein Angebot, daß sie dem (über den Erdball vagabundierenden) Kapital macht. Natürlich entscheidet sich das Kapital für einen Standort anhand mannigfaltiger Kriterien. Rechtssicherheit und Infrastruktur (und natürlich deren Preis, die Steuer...) gehören dazu, vor Ort bereits vorhandene Produktionen sowie andere Faktoren, die in die Produktivität und damit auch Profiterwartung ihrer Produktion einfließen. Klar, daß Staat und Kapital bestrebt sind, den Lohnabhängigen die Sache etwas vereinfacht und verzerrt darzustellen: Von ihrer Opferbereitschaft, ihrem Lohnverzicht undsoweiter, hänge das Schicksal des Standortes ab. Aber soviel ist daran richtig: Pure Rücksichtslosigkeit gegenüber der Vermehrung des Kapitals, bloßes Aufnehmen des vorhandenen Gewinns als umverteilbarer Geldmenge, verträgt sich nicht mit dauerhafter Kapitalvermehrung. So findet kein "Wirtschaftswachstum" statt - was dann auch bedeutet, daß die Quellen versiegen, aus denen die Soziale Grundsicherung fließen soll. Dies liegt nicht im Stil der Regierungspolitik, sondern ist eine Grenze die gilt, solange kapitalistische Produktionsweise herrscht.

III. Was tun - wenn nicht eine Soziale Grundsicherung fordern?
Wenn in dieser Debatte hier von Sozialer Grundsicherung die Rede ist, dann ist damit nicht gemeint, was die rot-grüne Bundesregierung jüngst unter diesem Namen eingeführt hat. Sie weiß, daß sie durch ihr Rentenkonzept immer mehr alte Menschen in die Sozialhilfebedürftigkeit drängt - und hat deshalb eine Soziale Grundsicherung eingeführt, die nicht höher ausfällt als die Sozialhilfe, sondern schlicht dem Sozialamt Arbeit ersparen soll. Den linken Befürwortern einer Sozialen Grundsicherung ist es vielmehr um die (von mir unter I und II kritisierte) Idee einer großen "gesellschaftlichen Umverteilung" zu schaffen. Viele, die so reden, haben schon mal davon gehört, daß sich der Kapitalismus auch grundsätzlich kritisieren läßt.
Bei ihnen lassen sich zwei unterschiedliche Varianten antreffen, Grundsicherungsforderung und Kapitalismuskritik zueinander ins Verhältnis zu setzen.

1) Der grundsätzliche Fehler
Zunächst will ich hier auf den Versuch eingehen, sozialpolitische Forderungen wie die nach einer Grundsicherung erklärtermaßen und von vornherein aufzustellen anstatt Kritik am Kapitalismus zu üben. Hierbei wird vor allem mit der Handgreiflichkeit solcher Forderungen argumentiert, die ich in den vorangegangenen Abschnitten zu widerlegen versuchte: Das Material der vorgeschlagenen Umverteilungsaktion, der bilanzierte Reichtum der BRD-Gesellschaft, sowie ihre Methode, die Form einer umfassenden sozialstaatlichen Maßnahme, stehen nur scheinbar für das Unterfangen zur Verfügung, das denen vorschwebt, die mittels einer Grundsicherung allen ein angenehmes Leben bescheren wollen. Das Argument, man solle doch machen, was machbar ist, zergeht so bei näherer Betrachtung wie Butter in der Sonne. Es kann daher auch nicht in Anschlag gebracht werden gegen das Unterfangen, gleich grundsätzlich gegen die kapitalistische Gesellschaftsordnung zu agitieren. Denn letzteres Vorhaben mag zwar wegen seiner langfristigen Erfolgsperspektive als muffig verschrien sein, aber der sozialreformerische Charme der Machbarkeit einer sozialen Grundsicherung ist nur ein eingebildeter. Und einem politischen Programm, das mit seiner höheren Erfolgswahrscheinlichkeit gegen radikale Kritik argumentiert, muß man das schon ankreiden: Diese Forderung ist bisher offensichtlich erfolglos. Gerade derjenige, der trotzdem auf solchen Forderungen beharrt und immer weiter beharrt, hat sich von der gesellschaftlichen Realität verabschiedet, indem er es pauschal ablehnt, Konsequenzen aus einer Gesellschaftskritik zu ziehen, bei der sich aufzuhalten ihm zu verbohrt wäre. - Wer also ist hier verbohrt?

2) Das gleiche, auf links gestrickt
Daneben gibt es noch die "linke" Variante, über einen Umweg auf die oben skizzierte Abweisung der Gesellschaftskritik zu gelangen. Hierbei wird zunächst unterstellt, Gesellschaftskritik und alternative sozialpolitische Programme ließen sich miteinander vermitteln. Es kursieren diverse Rezepte dafür, wie diese Vermittlung anzustellen sei, die sich obendrein auch untereinander noch widersprechen. Hier sei nur in Kürze auf einige zentrale Varianten eingegangen.
a) Der Kapitalismus gehe an den Folgen der Einführung der Grundsicherung zugrunde.
Es ist schon eine merkwürdige Idee, sich mit dem Anliegen "Kapitalismus abschaffen!" an eine Staatsgewalt zu wenden, ohne die diese Produktionsweise historisch nie Land gesehen hätte - und auch heute nicht sähe. Man mag das bedauern, aber: Kapitalistische Staaten haben bisher kaum einen Drang zur Selbstzerstörung an den Tag gelegt!
b) Linke Bewegungspsychologie: Die Menschen müßten die Erfahrung machen, daß sich die Grundsicherung nicht mit dem Kapitalismus vertrage und deshalb letzterer abzuschaffen sei. Oder in der Variante der linken Individualpsychologie: Sie müßten sich für ein paar komplett illusionäre Vorstellungen vom Sozialstaat erwärmen, um zu merken, daß ihnen überhaupt was fehlt.
Von hinten durch die Brust ins Auge: Wenn es denjenigen, die die Grundsicherung propagieren, denn tatsächlich darum geht, den Kapitalismus zu beseitigen, wäre es einfacher, zuverlässiger und aufrichtiger, gleich genau das zu fordern. Umgekehrt gilt: Tun sie es nicht, laufen sie Gefahr, daß aus den Erfahrungen, die sie den Anhängern ihrer Forderung bereiten wollen, diese ganz andere Schlüsse ziehen. Z.B. den, zuviel verlangt zu haben, und nun doch besser wieder zurückstecken zu müssen. Erfahrungen sind notwendig, um kluge Schlüsse aus ihnen zu ziehen und so letztlich zu wahren Einsichten zu gelangen - aber ersetzen können sie diese Einsichten nicht.
Last not least: Die BRD liefert bereits im Ist-Zustand manchen Anhaltspunkt dafür, daß am Kapitalismus etwas faul ist. Siehe auch IV.
c) Nicht so etwas wie eine soziale Grundsicherung zu fordern hieße, die negativen Folgen der kapitalistischen Produktionsweise passiv hinzunehmen.
An solchen Überlegungen ist zu ermessen, daß es für das "Von hinten durch die Brust ins Auge" von oben zumindest eine psychologische Erklärung geben mag. Es beschleicht einen - leider ganz zurecht - das Gefühl, mit dieser Produktionsweise und ihren Anhängern einer geballten Macht gegenüberzustehen, der die individuelle Einsicht einiger weniger kaum etwas entgegenzusetzen vermag. Das mag dann dazu verleiten, so etwas wie einen Mittelweg aufzumachen: Eine Forderung, die angesichts der Palette heutiger sozialstaatlicher Instrumente nicht zu abwegig erscheint, nicht doch ein paar Anhänger finden könnte, und es einem zugleich erspart, öffentlich etwas ganz und gar Abwegiges zu verlangen, etwa revolutionäre Konsequenzen. Etwas zu tun, um sich zu vergewissern, daß man "wenigstens überhaupt etwas" tun kann, ist Praxis um der Praxis willen - und eine solche Praxis wäre bestenfalls eine überflüssige Praxis.

IV. Und was folgt nun daraus?
Es klingt banal, aber es stimmt: Wenn man etwas grundsätzlich verändern will, sollte man zunächst mal wissen, was es ist. Dieses Wissen, diese Kritik weiterzuverbreiten, das ist kein Zynismus, sondern das Wichtigste, woraus politische Praxis heute zu bestehen hat. Und es ist etwas ganz anderes, als Werbung für alternative sozialpolitische Programme zu machen. Es heißt vielmehr, Leuten zu erklären, warum ihr Lohn, ihre Sozial- und Arbeitslosenhilfe, ihr Bafög etc. so beschissen niedrig ist - und permanent so beschissen niedrig sein wird, egal wie es gerade dem Standort geht, und egal wer gerade an der Regierung ist. Statt, wie gesagt, falsche Hoffnungen in den Zweck und die Möglichkeiten kapitalistischer Sozialpolitik zu wecken, wie es die Forderung nach einer "Sozialen Grundsicherung für alle" tut.

(Überarbeitete Fassung eines Artikels, der zuerst in der Beilage des freien zusammenschlusses von studentInnenschaften, fzs, zur Zeitung Jungle World im Sommersemester 2001 erschienen ist.)

B. Die Forderung nach Sozialer Grundsicherung - wie sie begründet wurde, was aus ihr geworden ist und was ihre heutigen Befürworter daraus nicht
lernen wollen

Vorweg ein Zitat aus einem Interview, das der Chef der Bundesanstalt für Arbeit, Florian Gerster (SPD) unmittelbar nach seinem Amtsantritt dem Spiegel gegeben hat:
"Wir brauchen ein Gesamtkonzept, um mit gezielten staatlichen Zuschüssen das riesige Beschäftigungsfeld gering qualifizierter Tätigkeiten etwa in Privathaushalten zu erschließen. (...) Wenn es gelingt, mit staatlichen Lohnzuschüssen Langzeitarbeitslose und Geringqualifizierte wieder in Lohn und Brot zu bringen, könnten wir uns im Gegenzug weniger effiziente Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen sparen. (...) Wir müssen uns aus der geistigen Sackgasse befreien, dass Subventionierung immer schlechter ist als Qualifizierung."
(Zitiert nach: Spiegel Online, 4.3.2002)

Der gerstersche Tabubruch, Subventionierung sei nicht "immer schlechter" als Qualifizierung, paßt ins Credo der neuen Arbeitsmarktpolitik. Wo "Beschäftigung" ist, wird Geld verdient - das macht die kapitalistische Anwendung der menschlichen Arbeitskraft seit eh und je zu einer ertragreichen, daher aber auch sorgsam zu pflegenden Einnahmequelle. Die klassische Variante, diese Einnahmequelle zu pflegen, entsprach der sozialdemokratischen Illusion, daß die erfolgreiche Anwendung der Arbeiter vom Erfolg der Arbeiter abhänge und umgekehrt. Wenn derjenige die Stelle bekommt, der am Besten für sie qualifiziert ist, garantiere daß dem Unternehmen "gute Leistung" und dem Betroffenen einen "guten Lohn". Mit diesem harmonischen Bild wird nun gebrochen. Die (angeblich ganz neue) Entdeckung lautet: Es lohne sich auch dort, arbeiten zu lassen, wo kaum Qualifikation erforderlich ist - und das erst recht, wenn man die in solchen Jobs Beschäftigten mit Billig- und Billigstlöhnen abspeist. Der Nutzen des Billiglohns ist in den Augen der Arbeitsmarktverwalter ein doppelter:
1.) Der Punkt, an dem sich die Arbeit für denjenigen lohnt, der für sich arbeiten läßt, tritt schneller ein - es findet praktisch automatisch mehr Beschäftigung statt, wenn mehr Beschäftigung profitabel ist. Und genau unter diesem Vorzeichen ist die Beschäftigung ja erwünscht. Mit dem ganz abstrakt daherkommenden Slogan "Leistung soll sich wieder lohnen" war nämlich nie die Leistung von Radrennfahrern oder Kaninchenzüchtern gemeint, sondern nur die Leistung der Lohnabhängigen für den Gewinn des Kapitals. Nebenher bemerkt sind die heutigen Vorstellungen über den Zusammenhang von Arbeit und Lohn nicht weit von den sozialdemokratischen von einst entfernt. Auch die alte Vorstellung ging davon aus, daß mit der fleißigen, möglichst auch noch begeisterten Teilnahme an der kapitalistischen Maloche so etwas wie ein moralischer Anspruch auf den Lohn erworben wird. Heute soll das auch gelten, aber immer häufiger bekommen die Einzelnen für ihre Bemühungen eine ziemlich miese Quittung ausgestellt. Bis hin zu dem Urteil, daß "man" eben gar nichts Gescheites mit ihnen anstellen könne. Fürs kapitalistische Geschäft nichts mehr zu bringen - das ist bekanntlich für Millionen zu einer durchschlagenden Entscheidung über ihr Lebensniveau geworden. Und nicht zuletzt auch über ihr Ansehen bei der leistungsfreudigen Mehrheitsbevölkerung, einschließlich ihnen selbst.
2.) Genau dieses Millionenheer der kapitalistisch überflüssig Gemachten tritt als "staatliche Ausgabenlast" in Erscheinung - auch und gerade dann, wenn viel umgeschult und qualifiziert wird. Ein Niedriglohnsektor ist unter den Voraussetzungen dauerhafter Massenarbeitslosigkeit ein willkommener sozialer Parkplatz. Der Staat läßt sich die Einrichtung dieses Parkplatzes gern auch etwas kosten - sowohl ideologisch als auch materiell. Ideologisch, indem das offizielle Ziel der Vollbeschäftigung de facto preisgegeben wird. (Näheres dazu weiter unten.) Materiell insofern, daß die Arbeitgeber möglichst von allen Kosten für sozialstaatliche Kassen befreit werden müssen, damit sich die Einrichtung solcher Beschäftigungsverhältnisse für sie rechnet. Sogar auf den Lohn etwas draufzuzahlen gilt als okay, solange diese Ausgaben unter dem Niveau der Lohnersatzleistungen bleiben, die so eingespart werden sollen. Die Palette der von Gerster und Co. nun stückweise eingeführten Mittel reicht von der Übernahme von Arbeitnehmeranteilen an den Sozialversicherungen bis hin zu pauschalen Zuschlägen für bestimmte Gruppen, wie etwas Rentner oder Familien. Die Idee solcher pauschaler Sozialleistungen ist nicht neu, und hat mit der Geschichte der Forderung nach einer Sozialen Grundsicherung mehr zu tun, als es ihr linken Anhänger heute wahrhaben wollen.
Der liberale US-Ökonom Milton Friedman verlangte bereits Anfang der Sechziger Jahre nach einem "Bürgergeld": Teure und verwaltungsaufwändige Sozialversicherungen sowie zusätzliche Überlebenshilfen für diejenigen, die erwiesenermaßen sonst überhaupt nicht hätten, sollten nach seiner Vorstellung in eine einzige "Negative Einkommenssteuer" münden. Diese würde pauschal das Überleben aller unterhalb einer bestimmten Einkommensschwelle ermöglichen. Alles weitere wäre dann individuelles Risiko: Wer es sich leisten kann, darüber hinaus private Versicherungen abzuschließen, kann das machen - wer es sich nicht leisten kann, hat Pech gehabt. Anders als z.B. bei der "Hilfe zum Lebensunterhalt" nach dem Bundessozialhilfegesetz, wird dasjenige, was zu der Überlebenspauschale nach Friedmanns Vorstellung hinzuverdient wird, nicht auf diese staatliche Leistung angerechnet. Somit "lohnt sich" die Aufnahme jeder auch noch so gering bezahlten Lohnarbeit: Der Staat unterhält auf diese Weise einen Arbeitskräftemarkt, auf dem ständig viele Menschen für Billiglohnjobs zur Verfügung stehen.

Der lange Marsch der Grundsicherungsforderer: Von den Grün-Alternativen in den Achtzigern über die Soziologie vom "Ende der Arbeitsgesellschaft" in den Neunzigern bis in die Regierungen von heute
Die Neuordnung des Weltfinanzmarktes bildete in Verbindung mit der weltweiten Rezession Mitte der Siebziger den Ausgangspunkt der bis heute andauernden "Krise des Sozialstaates". Die unterbrechungslose Vollzeitbeschäftigung einschließlich bescheidenem Wohlstand für die Familie, bis ins problemlos gegenfinanzierte Rentenalter - das war im kurzen Sommer der prosperierenden kapitalistischen Volkswirtschaften der offiziell angestrebte Lebensstandard für die Massen gewesen. Mit diesem Ideal wurde nun Schluß gemacht; Massenarmut und deregulierte zweite Arbeitsmärkte wurden wieder bewußt in Kauf genommen. Das verschaffte der Diskussion um das Bürgergeld neue Bedeutung. Erneut ins Spiel gebracht wurde die Bürgergeld-Idee in den Achtzigern nicht mehr nur von liberaler, sondern vor allem von grün-alternativer Seite. Neue Argumente für die Grundsicherung waren (und sind bis heute) die erst durch sie ermöglichte, längst überfällige Anerkennung der "informellen Arbeit", sowie das "soziale Grundrecht" aufs Überleben, das der Staat in der Fortsetzung der bisher "nur formellen" Bürgerrechte nun endlich auch zu gewähren habe.
Seit den 1990er Jahren wird die Grundsicherung nicht mehr nur von grün-alternativen oder - in der klassischen Variante des Bürgergeldes - liberalen Oppositionsparteien gefordert, sondern hat die Think Tanks der Arbeits- und Sozialministerien, Wohlfahrtsverbände, Gewerkschaften und sozialdemokratischen Parteien erreicht. Der direkte Lohn und die aus ihm finanzierten Sozialversicherungsleistungen werden immer häufiger um garantierte Pauschalen ergänzt - wie im Falle der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) und des Kombilohns in Deutschland, mit denen de facto Billiglohnarbeit subventioniert wird. Oder die Rente: Sie reicht so oft hinten und vorne nicht mehr, daß sie inzwischen bei Massen vor allem weiblichen Geschlechts um Sozialhilfe aufgestockt werden muß. Die Lösung: Ersetzen wir bei den Betroffenen alles durch eine Grundsicherung! Ein passender Bestandteil des Ausstiegs aus dem Umlagesystem der Renten, und des Einstiegs in die komplette Individualisierung des Risikos, alt zu werden. - Eine Aneignung der Grundsicherungsidee Marke SPD. Ein weiteres Beispiel: 325 ? Monatslohn mit ermäßigten, pauschalierten Sozialversicherungsbeiträgen sind ja schön und gut - aber wenn durch dieses Gesetz von der CDU bereits Massen von dauerhaft prekär Beschäftigten geschaffen worden sind, könnten es dann nicht noch ein paar mehr sein, indem man diese Grenze auf das Doppelte erhöht? Und einen Teil der Sozialhilfe in einen Pauschalbetrag verwandelt, auf daß er sich besser dazu eignen wird, die dauerhafte Existenz als Billiglohnarbeitskraft abzusichern? - Eine Aneignung der Grundsicherungsidee Marke Bündnis 90/Die Grünen.
Die Soziale Grundsicherung ist zum Ideensteinbruch der Modifikation bestehender Sicherungssysteme geworden. Die Macher der Sozialpolitik gehen hierbei großzügig darüber hinweg, daß die Grundsicherung ursprünglich die bestehenden Sicherungen durch etwas grundsätzlich Anderes ersetzen sollte. Daß die Grundsicherung der Notwendigkeit befreien soll, überhaupt ein Beschäftigungsverhältnis aufzunehmen, findet sich in Billiglohn-Subventionierungsmaßnahmen wie ABM und Kombilohn naturgemäß nicht wieder. Hier geht es nur um die reformfreudig-konstruktive Spinnerei, die nun von ihrer linken Randständigkeit ins Regierungsprogramm befördert worden ist.
Den Umweg über das linke Bewußtsein, den die Grundsicherungsidee nehmen mußte, bevor sie reif fürs Regierungsprogramm war, sollte man jedoch ernst nehmen. Andernfalls droht das bekannte Muster, den Idealisten von einst und heute Verrat oder Korrumption vorzuwerfen - was ganz falsch wäre, weil schon sie schon mit ihren ursprünglichen, ehrlichen Absichten falsch lagen.

Anerkennung "informeller Arbeit" - wozu soll das gut sein?
Die schonungslose Anwendung der menschlichen Arbeitskraft im Kapitalismus ruft ausgleichende Tätigkeit auf den Plan. Viele solcher zur gesellschaftlichen Reproduktion notwendigen, fürs Kapital jedoch unproduktiven Tätigkeiten werden unbezahlt geleistet: Als "ehrenamtliche", informelle oder "Hausfrauen-"Arbeit. Das wichtigste Modell für den ausgleichenden Charakter dieser Arbeit ist die Tätigkeit der Hausfrauen - übrigens unabhängig davon, ob sie neuerdings gelegentlich auch mal von Männern ausgeübt wird.
Der Freiraum, sich jenseits der Arbeit zu reproduzieren, wird durch Arbeitszeit und Arbeitsintensität in Frage gestellt. Vom Staat und von der Gesinnung der Mitmenschen wird jedem nahegelegt, wie er mit diesem Problem umzugehen habe: Man soll die Bewirtschaftung des stets zu engen Freiraums "Privatleben" zu zweit arbeitsteilig bewältigen. Auf den "Job" Hausfrau, der sich auf diese Weise ergibt, richten nicht wenige dann ihr gesamtes Leben aus. So weit, so problematisch. Kauzig wird es, wenn nun gezeigt werden soll, daß es das Problem an der Aufgabe der Hausfrau sei, daß sie unbezahlt verrichtet werde. Als ob diese Aufgabe sich nicht gerade aus dem Problem ergäbe, zu zweit von einem einzigen Lohn zu leben! Die Aufgabe selbst und ihr gesellschaftlicher Inhalt bleiben so unkritisiert. Statt die wesentliche gesellschaftliche Funktion der elendigen Hausfrauen-Arbeit in ihrem besonderen Bezug zur Lohnarbeit zu erkennen, wird zunächst die Lohnarbeit zum Ideal gemodelt, an dem dann die Hausfrauenarbeit abstrakt gemessen wird. Daraus kann sich naturgemäß nicht das Ziel ergeben, die ihrem Inhalt nach unbefriedigende, entwürdigende "Hausfrauenarbeit" abzuschaffen. Sondern es lautet dann, ganz im Gegenteil, sie besser anzuerkennen.
Das Lob kapitalistisch notwendiger kompensatorischer Arbeit, das in der Idee ihrer "Anerkennung" zum Ausdruck kommt, ist bloße bürgerliche Besorgnis darum, daß der Laden läuft. Als solche findet die Anerkennung ohnehin permanent statt: Was dem faschistischen Staat das Mutterkreuz fürs fleißige Gebären neuer Volksgenossen, ist dem demokratischen die Gratifikation der "Ehrenämter". Anerkennung soll als soziale Grundsicherung jedoch auch in Geld ausgedrückt werden, und gefälligst nicht nur durch Blechkreuze und ermäßigten Eintritt ins Hallenbad. Schließlich haben bürgerliche Soziologen entdeckt, daß auch Hausfrauen gesellschaftlich nützliche Arbeit leisten. Daß sie ausgerechnet deshalb mehr verdienen als "bloß symbolische" Anerkennung liegt nicht nur weit entfernt von jeder inhaltlichen Kritik der Hausfrauenarbeit. Sondern es ist bereits verdammt nah dran am Slogan "Wer nicht arbeitet soll auch nicht essen".
Aber woher soll die Kohle kommen? Solange irgendein Kapital dazu in der Lage ist, Lohnarbeiter erfolgsträchtig anzuwenden, wird es zu diesem Zweck deren Lohn innerhalb bestimmter Grenzen halten. Wo diese bestimmte Grenze nun verläuft, wie hoch also der gesellschaftliche Gesamtlohn war, ist immer erst am Ergebnis zu beurteilen. Am Ergebnis läßt sich ablesen, was insgesamt gereicht hat, um alle Lohnabhängigen (samt Familien, Rentern, Arbeitslosen...) am Leben und halbwegs bei Laune zu halten. Das im Kapitalismus ohnehin schon fragwürdige Ausspielen der Existenzberechtigung von Arbeitslosen, Hausfrauen etc. gegen das der "bessergestellten" Arbeitenden verlangt nach materieller Anerkennung. Bloß ist ziemlich sicher, daß bei jeder Forderung dieser Art, die sich mit dieser Forderung nach Anerkennung nicht ausschließlich an das Kapital wendet, doch wieder nur die wechselseitige Anerkennung aller herauskommt, die auf den einen oder anderen Umweg vom Lohn abhängen. Und dann ist es eine sehr schale Sache. Denn die materielle Anerkennung bislang unbezahlter Arbeit seitens derer, die bereits in Lohn und Brot stehen wäre nur eine weitere Umverteilung des Gesamtlohns innerhalb der Arbeiterklasse. Dabei ist es wohl kaum die Schuld der Arbeitenden, daß ihnen ständig nur solche Aufgaben vorgelegt werden, deren Bewältigung sich für ihre Arbeitgeber als Gewinn niederschlägt. Es ist nicht nachvollziehbar, warum die materielle "Anerkennung" aller Tätigkeiten, deren Erledigung sich kapitalistisch nicht rentiert, ausgerechnet vom Lohn abgezogen werden soll. Das Lob des "freiwilligen Engagements" ist in seiner radikalen Konsequenz, der Grundsicherung als Anerkennung solcher Tätigkeit, das Lob des Lohnverzichts. In den derzeitigen Hauptargumenten für die Grundsicherung, ob sie nun von Offe kommen oder von den Grünen, von Giddens oder den Kommunitaristen, offenbart sich in Reinform, was die Wohlfahrt kapitalistischer Nationalstaaten seit eh und je ausgemacht hat: erzwungene gemeinschaftliche Selbstaufopferung.

Grundsicherung - gemeinsames Bewegungsziel bisher zersplitterter Minderheiten?
Linke GrundsicherungsbefürworterInnen krönen ihre unzureichende inhaltliche Kritik an der Hausfrauen- wie an der Lohnarbeit, indem sie das Verbindende einer gemeinsamen Forderung betonen. So schreiben F.e.l.S. (u.a. HerausgeberInnen der "Arrranca!") sowie die Zeitung "analyse und kritik" in ihrem Aufruf zu einer "Existenzgeld"-Konferenz 1998, daß sich nun "feministische Politik, JobberInnen-Inis, Antirassismus-Arbeit usw." endlich "aneinander anknüpfen und sich gegenseitig verstärken" könnten. Die Autoren wissen aus Erfahrung wovon sie sprechen: Der eine "Jobber" nimmt dem anderen die Butter vom Brot, Frauen und Ausländer möchten gleichberechtigt um den Verkauf ihrer Arbeitskraft konkurrieren usw. Es stand jedoch nicht auf dem Programm der besagten Konferenz mal zu erklären, wieso man unter kapitalistischen Verhältnissen wie von selbst in die Konkurrenz zu anderen gerät, denen es doch eigentlich auch nicht viel besser geht als einem selbst. Statt dessen wird die umverteilende Staatsgewalt zum Adressaten der gemeinsamen Forderung; die Realisierung dieser Forderung durch ihn wäre dann die Aufhebung der wechselseitigen Konkurrenz. F.e.l.S. mäkelt zwar am realen Staatshandeln herum, aber dem Inhalt nach befördert gerade diese Mäkelei die Staatsgewalt zum Hoffnungsfaktor. Darin gleicht sie dem Argument,

Soziale Grundsicherung sei ein "soziales Grundrecht"
Die Soziale Grundsicherung bedeute, so wird behauptet, eine weitere Etappe im Fortschritt der bürgerlichen Gesellschaften, ihren Teilnehmern nicht nur Rechte und politische Partizipation zu garantieren, sondern auch gleichberechtigte Teilhabe am materiellen Reichtum ihrer Nation.
Wahr ist daran so viel: Staaten garantieren all ihren Bürgern die gleichen Rechte, aber von einer gleichberechtigte Teilhabe am materiellen Reichtum ihrer Nation ist nicht viel zu bemerken. Daß letzteres dann wohl "auch noch" garantiert werden müsse, geht am Verhältnis dieser beiden Sachverhalte zueinander vorbei. Die Garantie des Privateigentums garantiert Lohnabhängigen vor allem eines: dauerhaft von den Produktionsmitteln getrennt zu bleiben. Von ihrer Freiheit als Person haben die Individuen momentan kaum mehr als die Freiheit, sich gegen Lohn beschäftigen zu lassen. Auf diese Weise hat sich der Rechtsstaat als ein sehr angemessenes Mittel erwiesen die materielle Ungerechtigkeit stets wiederherzustellen. Erst unter rechtsstaatlichen Bedingungen hat die kapitalistische Verteilung der Reichtümer eine Zuverlässigkeit und Festigkeit angenommen, die sie anders kaum erlangt hätte. Angesichts dessen ist die Beurteilung des Rechts als eines Grundstocks, der "auch noch" um materielle Gerechtigkeit zu ergänzen wäre, einfach falsch.

(Nachtrag zum vorangegangenen Artikel, geschrieben im Frühjahr 2002.)

C. "John Maynard war unser Steuermann..." - Mit Keynes fürs Kapital? Oder mit Marx dagegen?
Was tut man, wenn man meint, kapitalistische Krisen kämen von einer falschen Politik? Richtige Politik fordern. Und was tut man, wenn man Krisen auf eine erhöhte "Liquiditätspräferenz" der Unternehmer und den daraus resultierenden Nachfrageausfall zurückführt? Man fordert die Politik auf, "Nachfragepolitik" zu sein, damit die Unternehmer wieder lieber investieren. Das ist linker Keynesianismus.
Und der läßt sich einiges einfallen. Daß im Krisenfall die Zinsen zu senken seien, darin sind sich guter Bulle und böser Bulle, also Keynesianer und Neoklassiker, noch einig: Krise heiße, es wird zu wenig investiert, deshalb zu wenig gekauft - und deshalb zu wenig verdient. Ein niedriger Zins auf kurzfristige Geldanlagen nun vermindert deren Attraktivität und erhöht dafür die Attraktivität produktiver Investitionen - aber natürlich nur, sofern die überhaupt einen Profit versprechen. Zinssenkung reicht also nicht.
Die Neoklassik schlägt an dieser Stelle eine Senkung der Unternehmenskosten vor. Bleibt vom Erlös mehr übrig, müßte doch mehr investiert werden? Sind die Arbeiter arm genug, geht's allen gut! Das aber will ein guter Sozialdemokrat nicht sagen müssen. Und damit, daß es Krisen trotzdem gibt, haben die Keynesianer ja sogar recht. Nur die Erklärung! Sie ziehen den Schluß (vgl. den Artikel von Hickel in der Jungle World 48, 2000), daß die Nachfrage erhöht werden muß. Aber wie? Exportförderung? Gibt's schon und reicht nicht. Man kann die Staatsausgaben erhöhen, die Investitionen (Straßenbau!), den Staatskonsum (Panzer! Beamtengehälter!) - oder die Löhne und Sozialleistungen! Na Prima! Kann es vielleicht sein, daß man so zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen könnte? Dem Kapitalismus sein menschenverachtendes Antlitz nehmen und ihn zugleich vor der großen Krise retten?
"Was der Unternehmer an Lohnkosten einspart, fehlt ihm hinterher als Nachfrage", sagen die linken Keynesianer, und fast jeder linke Sozialdemokrat betet es ihnen nach. Der Umkehrschluß folgt unmittelbar: Ausgaben ergeben zahlungskräftige Nachfrage und das müßte das Kapital doch freuen. Also Kredite aufnehmen, die Notenpresse anwerfen oder Steuern erhöhen und raus mit der Patte. Und die Löhne anheben, damit die Arbeiter mehr kaufen. Wieso bloß hat das Kapital dafür nichts übrig? Die Antwort darauf ist nicht neu, sondern steht schon bei Marx, obwohl der Keynes gar nicht kannte.
Keynes Theorie enthält eine erstmal durchaus richtige Reflexion auf die Annahme der traditionellen bürgerlichen Theorie, die kapitalistische Ökonomie tendiere aus sich heraus zu einem harmonischen Gleichgewicht - wenn man sie nur lasse und nicht mit dem Staat künstlich in sie hineinregiere. Keynes konnte demgegenüber zeigen, daß der Markt sich auch bei einem Ungleichgewicht einpendeln kann, wenn Nachfrageausfälle nicht nur zu wirtschaftlich anregenden Preissenkungen führen, sondern zugleich die Unsicherheit der übrigen Geldanlagen erhöhen und damit die Investitionsneigung weiter vermindern. Keynes empfahl dagegen eine aktive Geld- und Steuerpolitik des Staates, die antizyklisch Investitionen in Krisenzeiten zusätzlich attraktiv machen sollte - und während der Hochkonjunktur dämpfend vor "Überhitzung" schützen. Zweck des Keynesschen Programmes war also schlicht die Abschwächung des kapitalistischen Konjunkturzyklus, nicht aber ein Programm zur Beglückung der Besitzlosen. Daß der Zweck kapitalistischen Wirtschaftens aber nicht die Bedürfnisbefriedigung ist, sondern die Akkumulation des Kapitals, kommt linkskeynesianistischen Standortpflegern wie Professor Hickel noch weniger in den Sinn als ihren offener bürgerlichen Kollegen. Das Ziel Hickels ist es dementsprechend, eine Politik zu fordern, die "auch der Unternehmenswirtschaft" hilft. Und was hilft der?
Es ist schon richtig: Das Kapital braucht Nachfrage. Auch die Auffassung, daß dem Kapital an Nachfrage fehlt, was es den Arbeitern weniger auszahlt, stimmt erstmal ja - unter der Bedingung, daß es nicht möglich ist, einen ganz anderen Käufer für das hergestellte Produkt zu finden, nämlich das Kapital selbst. Daß es auch einen Produktionsmittelmarkt gibt, auf dem Geld verdient wird, sollte man in diesem Zusammenhang ruhig schon mal erwähnen.
Wichtiger als die Nachfrage ist aber etwas anderes. Ein hoher Marktanteil nützt nichts, wenn er nicht mit einem gewissen Profit pro Ware verbunden ist. Senkte der Unternehmer den Preis auf Höhe der Herstellungskosten, stiege sein Absatz, seine Profitrate sänke auf Null. So weit, so schlicht.
Der Preis einer Ware ergibt sich nicht zufällig, sondern schwankt je nach Konjunktur um den Produktionspreis. Der ergibt sich aus den durchschnittlichen Herstellungskosten und dem gesellschaftlichen Durchschnittsprofit. Wieviel Profit insgesamt, also die gesamte Gesellschaft betrachtet in der Konkurrenz zu verteilen und dann zu akkumulieren ist, ist bestimmt durch die Gesamtmenge mehrwertproduzierender Arbeit und das Verhältnis dieser Arbeitsmenge zum Gesamtlohn - daran ändern Industrieroboter genausowenig wie Jürgen Habermas. Wäre das gesellschaftliche Lohnniveau so hoch, daß insgesamt nur ein Äquivalent für den Lohn produziert würde, führte die Nachfrage nach Gütern zu keinem Profit, es wäre keine Akkumulation möglich, es fände keine kapitalistische Produktion statt - und das ganz ohne Nachfragemangel. Mehrwert und damit auch Kapital produziert die Arbeit nur insoweit der Arbeitstag länger dauert als zur Reproduktion des Lohnes erforderlich.
Die Unternehmer sind gezwungen, permanent die Produktivkraft zu steigern, also mit Hilfe technischen Fortschritts bei gleichem Aufwand mehr Gebrauchswert herzustellen. Das ist aber nicht der Zweck der Veranstaltung, denn es wird auf diese Weise unmittelbar nicht mehr Wert produziert, was einer vermehrten Akkumulation vorausgesetzt wäre. Der Wert verteilt sich nur auf mehr Waren, die damit in der Herstellung billiger werden und Extraprofite auf Kosten der Konkurrenz ermöglichen. Nur deshalb lohnt sich die Sache ja für den einzelnen "Unternehmer". Für das Gesamtkapital, das naturgemäß nichts auf Kosten eines Konkurrenten gewinnen kann, weil alle Konkurrenten ein Teil dieses Gesamtkapitals selbst sind, ist der Produktivkraftanstieg demgegenüber nur dadurch lohnend, daß die Löhne langsamer steigen als die Produktivkraft: Die Lebensmittel und damit die Arbeitskraft selbst werden mit der Produktivkraftsteigerung für das Kapital zumindest relativ billiger, der Anteil der Mehrarbeit am Arbeitstag steigt. Einen Lohnanstieg, wie Hickel vorschlägt, "wieder" am Zuwachs der Arbeitsproduktivität auszurichten, machte technischen Fortschritt für die Verwertung wirkungslos und stünde dem Zweck der kapitalistischen Produktion entgegen.
Für einzelne Unternehmer können individuelle Konsumenten Kunden sein, die so gut sind wie jeder andere. Bezogen auf das gesellschaftliche Gesamtkapital ist das anders. Es stimmt nicht nur, daß jede Lohnersparnis erstmal (!) eine Nachfrageverminderung bewirkt, sondern auch umgekehrt, daß jede Lohnzahlung den Akkumulationsfonds beschränkt und damit die Nachfrage in der Produktionsmittelindustrie.
Das ist zu illustrieren am Vergleich zweier kapitalistischer Produzenten. Worin unterscheidet sich die Nachfrage nach einer Werkzeugmaschine von der Nachfrage nach 1000 Couchgarnituren? Für den Produzenten erstmal gar nicht. Gleiche Preise vorausgesetzt und laufende Geschäfte unterstellt, verkauft der Produzent zu einem Preis, der ihm seine Auslagen zurückerstattet und so ungefähr den gesellschaftlichen Durchschnittsprofit sicherstellt. Nur diese Seite betrachtet der gutmeinende linke Keynesianist. Beim Käufer aber ergibt sich ein wesentlicher Unterschied. Die Maschine überträgt ihren Wert auf die mit ihr hergestellten Produkte. Ihr Wert erscheint also zweimal, einmal in ihrem Kaufpreis und noch mal in der Bilanz des Kapitals, durch das sie angewendet wird, weiter sogar noch dort, wo ihre Produkte angewendet werden. Nicht nur das für die Maschine bezahlte Geld, sondern sie selbst geht in die Kapitalakkumulation ein. Die Couchgarnituren demgegenüber werden zwar bezahlt, ihrer stofflichen Seite nach aber unproduktiv wegkonsumiert. Sie erscheinen im Wert der Ware Arbeitskraft, wenn sie zum normalen "Warenkorb" gehören; die Arbeitskraft überträgt ihren Wert aber nirgendwohin. Sie scheiden aus dem Kapitalkreislauf aus und tragen zum weichen Sitzen, nicht aber zur Akkumulation bei.
Die Arbeiterbevölkerung kann den Mehrwertanteil der gesellschaftlich produzierten Warenmenge prinzipiell nicht aufkaufen und damit in Geld umsetzen; der Mehrwert ist ja gerade der Teil, der über den gesellschaftlichen Gesamtlohn hinaus produziert wurde. Seine Umsetzung von Ware in Geld müssen die Kapitalisten mit dem von ihnen realisierten Profit schon wechselseitig erledigen. Das alles ist bürgerlichen Ökonomen nicht ganz fremd. Deshalb ist ja überhaupt zu erklären, daß Ideen wie die von Hickel von der Kapitalseite nicht mit einem erleichterten Handschlag vor die Stirn und einer schnellstmöglichen Umsetzung quittiert werden. Wenn es dem Kapital so einfach nützen würde, hätte das in den 65 Jahren seit 1936, als Keynes seine grundlegende Schrift veröffentlichte, wohl auch der bornierteste Wurstfabrikant im Landkreis Diepholz bemerkt.
Daß antizyklische Konjunkturmaßnahmen einschließlich einer Erhöhung des unproduktiven Konsums jenseits sozialdemokratischer Gutmenschen überhaupt noch Anhänger haben, liegt daran, daß die genannten Grundbestimmungen kapitalistischer Ökonomie sich nur vermittelt durchsetzen. Ist krisenbedingt der Auslastungsgrad der bestehenden Produktionsanlagen gering, so drückt das die Profite. Würde ein steigender Lohn über die Erhöhung des Konsums die Auslastung dieser Anlagen verbessern, so müßten die Profite trotz des Lohnanstieges tatsächlich nicht sinken. Sind die Anlagen teilweise auf Kreditbasis errichtet, kann ein Konjunkturprogramm ganze Zahlungsketten absichern, deren Zusammenbruch das gesellschaftliche Kreditwesen arg in Mitleidenschaft ziehen würde. Das ist allerdings schon Ausdruck der Krise. Das Kapital, das in unausgelasteten Anlagen steckt, ist überakkumuliert, und es ist nur die zweitschlechteste Variante, einen Großteil des Wertprodukts dem individuellen Konsum der Arbeiterklasse zu überlassen. Die schlechteste wäre, wenn in den Anlagen gar nicht produziert würde.
Sollte das Auslastungsoptimum tatsächlich erreicht werden, erscheint der Lohn wieder so, wie er die ganze Zeit war: immer zu hoch für die Verwertungsbedürfnisse des Kapitals.
Hohe Löhne sind ein Standortnachteil in der internationalen Konkurrenz, und die Politik zieht daraus die bekannten unfreundlichen Konsequenzen. Es trifft gerade im keynesianistischen Wunschfall, daß eine Flaute des Geschäfts durch eine Nachfragesteigerung belebt wird, Hickels auf die Neoklassik bezogene Urteil zu, daß der Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben werde. Eigentlich müßten Lohn und Staatsausgaben fix wieder gesenkt werden - aber das geht nicht so leicht, sondern ist mit langwieriger politischer Mühsal verbunden.
Und selbst dieser magere Erfolg ist nicht gewiß. Alles soll darüber in Schwung kommen, daß angesichts der Nachfrage zuerst die Produzenten der Konsumgüter ihre Investitionszurückhaltung aufgeben, dadurch die Nachfrage bei den Produktionsmittelproduzenten steigt, alle mehr kaufen, alle mehr Leute einstellen, die auch mehr kaufen usw. Solange es aber in einer Krisensituation erstmal um einen höheren Auslastungsgrad geht, finden solche Investitionen in nennenswertem Umfang gar nicht statt. Die Erhöhung des unproduktiven Konsums durch höhere Löhne oder höhere Staatsausgaben (über Steuern auf die Gesellschaft umgelegt oder durch Geldmengenerhöhung inflationär wirkend) wirkt als Beschränkung des Akkumulationsfonds demgegenüber sofort und macht wenn überhaupt arbeitssparende Investitionen lohnend.
Zur Illustration ein Beispiel aus den 70ern: Die zu einem guten Teil über staatliche Verschuldung geschaffene Nachfrage führte 1979 und 1980 glücklich zu Unterkapazitäten in der Industrie; Kapazitätsausweitungen fanden jedoch unter Einsparung von Arbeitskraft statt (Rationalisierungen), und angesichts der Kosten der Arbeitslosigkeit stieg die Nettokreditaufnahme weiter an. Die erforderlichen Zinszahlungen verhinderten es, den Anteil der Investitionen an den öffentlichen Ausgaben zu vergrößern, wie es einem keynesianistischen Konzept entsprochen hätte - er ging zurück, die keynesianistische Politik schaffte sich sozusagen selbst ab.
Daß Rot-Grün die Vorschläge Hickels nicht umgesetzt hat, ist nicht auf Borniertheit zurückzuführen und auch nicht auf Bestechung. Denn auch, wenn es die linken Keynesianisten nicht wahrhaben wollen: Kapitalakkumulation setzt unproduktiven Konsum voraus und ist ihm zugleich entgegengesetzt. Löhne müssen im Kapitalismus gezahlt werden - und laufen dem Zweck der Veranstaltung zugleich entgegen. Das einzig sichere Mittel sowohl gegen kapitalistische Krisen als auch gegen die Grausamkeiten des funktionierenden kapitalistischen Geschäfts wäre Nichtkapitalismus. Aber das ist gar kein konstruktiver Vorschlag.

(Überarbeitete Fassung einer junge-linke-Veröffentlichung von 1999.)

1. Auflage der "Gesammelten Texte" März 2002